Lohnt sich heutzutage noch eine Promotion?
Ich sehe hier 4 Konstellationen:
1) Unbedingtes „Ja“: Man findet die Fragestellung so interessant, dass man sie auch ohne weiteren persönlichen Nutzen intensiv bearbeiten würde. Dieses Kriterium dürfte bei 99% der Doktoranden nicht erfüllt sein.
2) Bedingtes „Ja“:
Beispielhafte Motivationen: Beginn einer Karrierewissenschaft, soziales Ansehen, spätere Gehaltsverbesserung.
Voraussetzungen:
Man hält das Junktim „Die Doktorarbeit an sich interessiert mich nicht. Aber das, was ich damit erreichen kann.“ jahrelang aus, und kann sich immer weiter motivieren.
Im Fall der „Karrierewissenschaft“ muss man sich außerdem darüber im Klaren sein, dass man innerhalb des wissenschaftlichen Systems aus der genannten Verknüpfung auch nach der Promo, insgesamt für deutlich 10 Jahre+, nicht mehr herauskommt. Bsp.: 3 Jahre Promo, 6 Jahre Habil, 3 Jahre weitere Wissenschaft bis zur Erlangung der Ziel-Position, in der man dann ggf. mehr oder weniger die Wissenschaft in dem Ausmaß machen kann, auf die man Bock hat. Das verändert einen auch als Menschen: Irgendwann stellt man fest, dass man an einem Thema weiterarbeitet, das man ursprünglich / eigentlich gar nicht interessant fand; einfach deshalb, weil man jetzt schon Jahre daran sitzt und diese Arbeit ein Teil von einem Selbst geworden ist. Man fühlt sich deshalb aber nicht wesentlich besser als am Anfang. Und ohne weitere Wissenschaft wird es dann doch nichts mit der großen Karriere.
Man passt von der Persönlichkeitsstruktur zu den WissenschaftlerInnen, mit denen man zusammenarbeitet, oder kann sich zumindest immer wieder auf diese einstellen.
Bei „soziales Ansehen“ und „spätere Gehaltsverbesserung“ ist noch zu bedenken, dass der jeweilige Nutzen in den letzten Jahrzehnten drastisch zurückgegangen ist. In den 1980er-Jahren war man als „der Herr Dr.“ noch „wer“. Der Effekt ist heutzutage fast weg: (Vermeintliche) Promotionsskandale haben zur Reduktion des sozialen Ansehens geführt. Außerdem gibt es eine Inflation von Professuren ohne vorherige Habilitation und häufig fragwürdigen postgradualen MSc./LLM. Und „Prof.“ oder noch 2 MSc. hinter dem Namen sehen sozial halt nach mehr aus, als ein „Dr.“ 🤷♂️
3) „Nein“: Man hat andere Projekte, in die man die für eine Doktorarbeit benötigte Zeit und Energie besser investieren kann. So könnte man versuchen, statt eines wissenschaftlichen (Promovend) ein praktischer (viel Übung / Erfahrung) Experte zu werden. Oder man investiert die Zeit in eine Selbständigkeit nach eigenen Vorstellungen.
Schaut man sich als Zwischenfazit die 3 Gruppen an, so dürfte in den meisten Fällen von einer Doktorarbeit abzuraten sein: In die erste Gruppe wird man nicht fallen, die zweite stellt eine fragile Motivation dar, statt dessen dürfte die dritte Gruppe häufig intensives Nachdenken rechtfertigen.
Es gibt andererseits 4) Einschränkungen:
Man arbeitet in einem beruflichen Setting, in dem die meisten KollegInnen promoviert sind. Je nach Selbstbild hat man hier schnell Hunderte von Situationen, in denen man denkt „Fast jeder ist hier promoviert. Nur ich nicht!“. Das macht einen ggf. innerlich auf die Dauer fertig.
In Kollegenkreisen hat der Dr. noch einen echten Stellenwert. Bsp.: Jurist. Hier gibt der Dr. einen starken Hinweis darauf, dass man ein gutes Examen hatte (Promotionsvoraussetzung), und somit womöglich auch ein exzellenter berufspraktischer Kollege ist.
Eine Promotion ist üblich oder gängig, und daher ein relativ sicher gangbarer Weg. Bsp.: Chemie, Geschichte, Theologie.
Zum Abschluss: Unbefangen könnte man zurecht fragen „Man promoviert doch in erster Linie, weil man etwas Cooles entdecken will, oder?“. Große wissenschaftliche Beiträge durch Einzelne sind im gegenwärtigen wissenschaftlichen System jedoch quasi unmöglich: Wissenschaft findet fast nur noch in großen Arbeitsgruppen, in der man als Doktorand ein kleines Licht ist, statt; die meisten großen wissenschaftlichen Fragen sind so umfangreich vor-bearbeitet, dass für einen selbst nur noch „ein Atom“ der ursprünglichen Frage als nächster Schritt bleibt; für eine wissenschaftliche Publikation werden immer umfangreichere und auch interdisziplinäre Arbeiten erwartet, die man als Einzelner nicht mehr stemmen kann; in kleineren Settings ist es schwierig, Arbeiten finanziert zu bekommen etc.