Blick des Orients auf den Okzident
Den Orient mit dem Napalm der Freiheit und des Humanismus überziehen:
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Am 16. März 1721 erfolgt schließlich der Einzug der türkischen Gesandtschaft in Paris. Ein Geleitzug von 30000 Soldaten führt das orientalisch bunt geschmückte Gefolge in die Tuilerien. Dann werden die Emissäre Ludwig XV. vorgestellt. Sie sind tief beeindruckt - und teilen das der Heimat mit. Es ist die Zeit einer ungeheuren höfischen Prachtentfaltung. Als Mehmet Celebi schließlich das Schloss von Versailles mit seinen beeindruckenden Gärten besucht, entschlüpft ihm gar diese Bemerkung: Während wir uns diesen Garten ansahen, haben wir uns des ehrenvollen Hadith erinnert: Die Welt ist das Gefängnis der Gläubigen und das Paradies der Nichtgläubigen."
Celebi betreibt eine Art Vermessung der Fremde: Womit verbringen die Leute ihre Zeit? Was sind öffentliche Orte - von Badehäusern hin zu Kirchen? Und was sind Kuriositäten? Und da spielt natürlich das Mann¬Frau-Verhältnis eine wichtige Rolle. „Im Land Frankreich ist das Ansehen der Frauen in Bezug auf die Männer höher, deshalb handeln sie, wie es ihnen gefällt, und gehen dahin, wohin es ihnen beliebt. Von den auserwählten Adeligen bis hin zu den Niedersten widerfährt ihnen über die Maße Respekt und Achtung. In allen Provinzen gelten ihre Entscheidungen." Doch das sind natürlich Wahrnehmungen aus einer bestimmten Perspektive und einer bestimmten Wirklichkeit. Dass es Anfang des 18. Jahrhunderts um die Rechte der Frauen und um ihre Lebensbedingungen jenseits der höfischen Gesellschaft nicht annähernd so stand, wie Celebi es beschreibt, konnte er kaum ahnen. Mit solchen Wirklichkeiten konfrontierte ihn seine Reise nicht.
b dem 18. Jahrhundert vermehren sich die gedruckten und weiteren Kreisen zugänglichen Reiseberichte über Europa. In allen bedeutenderen Hauptstädten Europas werden jetzt ständige osmanische Gesandtschaften eingerichtet. Die Zeiten wandeln sich. Das Osmanische Reich erstreckt sich zwar von Marokko bis Persien. Aber es schwächelt im Inneren wie an seinen Grenzen. 1783 erobern die Russen die Krim-Halbinsel und machen die Ostgrenzen unsicher. Und 1798 schließlich kommt es zu einem traumatischen Ereignis: Napoleon Bonaparte landet in Ägypten. Die Franzosen besetzen das Land und bleiben vier Jahre lang. Die muslimische Welt ist verstört.
Fortan lebt der Orient im Horizont einer diffusen europäischen Bedrohung. Die Idee der prinzipiellen Überlegenheit gerät im 18. Jahrhundert ins Wanken und wird im 19. Jahrhundert erschüttert. Bekim Agai: „In dem Moment, wo man nicht bloß eine Schlacht verliert, sondern in dem Moment, wo sich europäische Staaten im Nahen Osten dauerhaft festsetzen, ist klar, dass man es mit einer Macht zu tun hat, der man unterlegen ist."
Sollte es je einen ursprünglichen, rein von sich selbst erfüllten Orient gegeben haben, dann verfremdet er sich fortan binnen weniger Jahrzehnte dramatisch. Es beginnt das Zeitalter der Vermischung, komplexer Vermischung. Europa ist die Macht, mit der man konkurriert, ist Feind und Vorbild zugleich. Entweder man europäisiert sich oder man wird europäisiert.
Nach der Besatzung Ägyptens durch Napoleon hatte man nicht nur die eigene militärische Unterlegenheit gesehen, sondern schlimmer noch: einen gravierenden Mangel an Technik, Bildung und Organisation in allen Bereichen. In Ägypten regierte in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts als osmanischer Statthalter Mohamed Mi, der auch nach der Unabhängigkeit Ägyptens von
Konstantinopel strebte. Brutal modernisierte er das Land. Um das Bildungswesen auf Trab zu bringen, wurden Kundschafter etwa nach Paris geschickt.
Zum Beispiel Rifa'a at-Tahtawi - ein ägyptischer Imam, groß geworden in der Reformbewegung nach der Napoleonischen Invasion, der von 1826 bis 1831 Paris besuchte und von dieser Reise einen bemerkenswerten und höchst folgenreichen Bericht hinterlassen hat. Tahtawi schwärmt von Paris und schaut sich sehr genau an, was da passiert und was sich alles zur Übernahme nach Ägypten empfiehlt, und ihn schaudert, wenn er die französischen Zustände mit Ägypten vergleicht. Bei Rifa'a at-Tahtawi zeigt sich allerdings auch, wie die Wahrnehmung der europäischen Verhältnisse von eigenen Interessen bestimmt wird. So beschreibt er die französischen Frauen als sehr tugendhaft. Mag sein, führt er aus, dass die Frauen in Paris ein bisschen mehr Haut zeigen, aber im Wesentlichen sind die Frauen tugendhaft. Doch das Mann-Frau-Thema funktionierte schon damals, um zivilisatorische Grenzen zu stecken. Mit Sicherheit war es ihm wichtiger, die Sache so darzustellen, dass Frauen in Europa zwar anders auftreten mögen, aber bei näherer Betrachtung den orientalischen Standards nicht prinzipiell widersprechen. Tatsächlich galt die Tugendhaftigkeit der Frau ja auch als Ideal jener Jahre in Europa. Und so konnte man je nach Standort entweder europäische Glaubensbekenntnisse oder europäische Wirklichkeiten beschreiben. Je nachdem, ob jemand moderne Strukturen für den Import nach Kairo oder Konstantinopel empfehlen wollte oder gerade nicht.
Bis Ende des 19. Jahrhunderts hat sich ein großer Teil der Eliten in den Ländern des Orients, von Marokko bis in den Hindukusch, die europäische Kultur in hohem Maße angeeignet. Nicht ohne groteske Momente - woran der Schriftsteller und Orientalist Stefan Weidner erinnert: „Diese Absorption ist ja auch nicht immer - in unserem heutigen Sinne - fortschrittlich gewesen, sondern auch rückschrittlich. D. h. die Eliten, die sich islamisch definiert haben, haben z. B. den westlichen Puritanismus importiert. Der Puritanismus, den wir heute im Islam beklagen, war bis Mitte des 19. Jahrhunderts dort nicht vorzufinden. Ja, noch Anfang des 20. Jahrhunderts sind die westlichen Intellektuellen nach Nordafrika gepilgert, um dort Sex zu haben, was sie in Europa nicht konnten. Dieser Puritanismus wurde von vielen Muslimen Ende des 19. Jahrhunderts übernommen, weil der Westen ihnen vorgeworfen hatte: Ihr seid nicht wirklich moralisch, ihr seid nicht auf unserer Zivilisationsstufe. Bildet doch erst mal eine Moral aus, wie wir sie haben - also eine viktorianische Moral." Okzident und Orient funktionieren nicht mehr als Dichotomie des Eigenen und des Anderen und auch nicht als Unterscheidung zwischen Gut und Böse, wirklich und unwirklich. Bald leben Zehntausende Europäer in Kairo oder Tunis. In Istanbul besteht am Ende des 19. Jahrhunderts fast die Hälfte der Einwohner aus Europäern. Unzählige ägyptische oder iranische Studenten studieren in Oxford, Brüssel oder Göttingen. Arabische Muslime dienten in der englischen Armee, um mit indischen Soldaten gegen Franzosen oder türkische Muslime zu kämpfen. Der Orientalist Bekim Agai, der sich intensiv mit der west-östlichen Seelenwanderung beschäftigt hat, beschreibt die Lage so: „Mussten die Leute Anfang des 19. Jahrhunderts auf einem Dorf im Nahen Osten Paris kennen? Nein. Ende des 19. Jahrhunderts wird das wichtig, dass man 'Paris und London kennt, weil da die Baumwollpreise ausgehandelt werden an der Börse und das den Bauern auf dem Land betrifft. Wie viel kriege ich für mein Produkt? Da werden die politischen Deals ausgehandelt und wie hoch morgen meine Steuerbelastung ist. Es kann sich niemand mehr leisten, Europa zu ignorieren."
Das riesige Osmanische Reich verfällt im 19. Jahrhundert zusehends: Im Inneren wie an seinen Rändern. Und sofort stoßen europäische Staaten nach. Zum Beispiel in Nordafrika, von Marokko bis Ägypten, befindet sich der gesamte Maghreb bald in französischer, englischer oder italienischer Hand. Und der weiße Mann geht nicht gerade zimperlich vor. „Wir töten, wir erwürgen. Die Schreie der Verzweifelten, der Sterbenden mischen sich mit dem Lärm des brüllenden, blökenden Viehs. Ihr fragt mich, was wir mit den Frauen machen. Nun, wir behalten einige als Geiseln, andere tauschen wir gegen Pferde, der Rest wird wie Vieh versteigert", berichtet Oberst Lucien-Francois de Montagnac im Jahre 1842 aus Algerien.
Anfang des 20. Jahrhunderts herrscht Großbritannien über ein Viertel der Erde und über ein Viertel der Weltbevölkerung. Mehr als ein weiteres Viertel haben die an-deren europäischen Staaten unter sich auf-geteilt. Soweit sie überhaupt einen eigenen Gestaltungsspielraum haben, setzen orientalische Politiker auf Anpassung an die Machtverhältnisse. Niemand ist dabei so weit gegangen wie der türkische Staatspräsident und Gründer der türkischen Republik Mustafa Kemal. Er hatte der Türkei seit 1924 eine außerordentlich radikale Modernisierung verordnet. Systematisch und unbarmherzig hatte er die Ordnung des Osmanischen Reiches durch die Institutionen und Sitten einer modernen Republik ersetzt. So betrieb er vor allem die strikte Trennung von Religion und Staat, verbot das Tragen religiöser Kleidung und förderte die Gleichstellung der Frauen, er schaffte Kalifat und Sultanat ab und einte den Vielvölkerstaat im Zeichen einer türkischen Nation. Mit anderen Worten, er rottete jahrhundertealte Traditionen mit Stumpf und Stiel aus und implementierte innerhalb einer Dekade eine europäische Moderne, die im Empfinden der meisten Türken Des-orientiertheit auslösen musste - selbst wenn sie mit Atatürks Ideen vollkommen einverstanden waren. Emphatische Europäisierung und orientalische Selbstvernichtung. Das gilt nicht nur für die Türkei. Mit Beginn des 20. Jahrhunderts ist die westliche Kultur in fast allen orientalischen Ländern Teil der eigenen Lebensform. Allerdings in fast schon grotesker Widersprüchlichkeit: Wie kann man eine Kultur schätzen, die einen zum Vieh erklärt? Man mag die Idee der Menschenrechte und der Aufklärung bewundern. In den Staaten des Orients bedeuten sie Versklavung und Verdunkelung.
Anfang des 20. Jahrhunderts befinden sich - bis auf die Türkei - fast sämtliche Länder des ehemaligen Orients unter der kolonialen Knute rivalisierender europäischer Mächte: von Marokko über Ägypten, Palästina, Irak, Iran, Afghanistan bis Indien. Nach dem Ersten Weltkrieg erweitert sich das Feld der Kolonialnächte um einen wichtigen Akteur: die Vereinigten Staaten von Amerika. Zunächst traten die USA als ehrliche Makler auf - etwa in der Diskussion um Palästina, bei der Aufteilung der britischen Mandatsgebiete, der Hinterlassenschaft des Osmanischen Reiches. England und Frankreich wollten diese Gebiete als Einflusssphären bewahren. Der US-amerikanische Präsident Wilson garantierte den Arabern Freiheit. Und daran haben alle geglaubt. Aber dann hat Wilson die Araber an Engländer und Franzosen verkauft. Die Kolonialgeschichte ging weiter bis nach dem Zweiten Weltkrieg. Und auch der Verrat. Man hatte den meisten arabischen Staaten die Unabhängigkeit versprochen - dafür hatten sie an der Seite der Engländer und Franzosen gegen die Deutschen gekämpft. Doch nach 1945 war davon keine Rede mehr. Jetzt blieb nur noch der Aufstand gegen den Kolonialismus. Er war grausam und lang. So lang und grausam, dass die Europäer die Güte des Vergessens über die Schlachtfelder gesenkt haben.
Hunderttausende Algerier ließen ihr Leben, damit Algerien 1962 endlich in die Unabhängigkeit entlassen werden konnte. Doch welche Unabhängigkeit? Man hatte jetzt einen Gründungsmythos - die Befreiung von Europa - und gleichzeitig hatte man mit den Nationalstaaten Staatsgebilde, die ganz und gar europäisch konzipiert waren. Ansonsten hatte man sich innerhalb einer neuen globalen Konstellation zu entscheiden: zwischen West und Ost. Der sogenannte Kalte Krieg wurde schnell heiß in den ehemaligen Kolonien. Etwa im Iran, wo 1953 der demokratisch gewählte Ministerpräsident Mossadegh vom britischen und US-amerikanischen Geheimdienst weggeputscht wurde. Angeblich, weil er sein Land sowjetischen Einflüssen geöffnet habe. Mossadegh hatte noch einen weiteren Makel: Er ließ die Ölquellen verstaatlichen. Und bald hatten die ehemaligen Kolonialmächte fast überall ihre Marionettenregierungen installiert: den König in Marokko, die Diktatoren Ben Ali in Tunesien, Mubarak in Ägypten, Saddam Hussein im Irak und den Schah im Iran. Stefan Weidner: „Was sich bis heute durchgehalten hat, bis in den Arabischen Frühling, sind die kolonialen Strukturen, d. h. die Verachtung der Machthaber für ihr Volk. Die Verachtung erst der Kolonialherren, danach der westlich oder russisch gestützten Regimes, die auf ihre Völker schauen mit derselben Arroganz wie die Kolonialherren auf ihre Völker geschaut haben, um die Macht auszuüben. Das ist vor allem das Militär, aber auch ein gewisser Beamtenapparat, die wirtschaftlich das Land ausbluten lassen und dann ihr Riesenkapital in der Schweiz oder sonst wo anlegen." Nahezu alle arabischen Regimes sind von der eigenen Bevölkerung als Sachwalter des Westens wahrgenommen worden.
Fast zwei Jahrhunderte lang hatte sich der Orient mit einer verwirrenden Paradoxie gelähmt: Europa als Heilmittel und Europa als Krankheit. Jetzt mehren sich die Stimmen, die sagen: Unser Problem ist nicht die mangelnde Modernisierung, sondern dass wir den Weg der Modernisierung überhaupt ein-geschlagen haben. Wir haben uns die ganze Zeit verraten. So kam es zu einer brachialen Reorientalisierung, einer neuen aggressiven Identität: dem Islam - aber nicht dem gängigen Islam, der sich zwei Jahrhunderte vor den okzidentalen Karren hatte spannen lassen.
Der Ägypter Said Qutb wurde zu einem der Gründer des modernen Islamismus, das heißt eines politisch militanten und totalitären Islam. In dem Maße, wie Qutb wieder eine Perspektive des Eigenen herstellt, rekonstruiert er den Westen als feindliche Gegenmacht. Und umgekehrt. Said Qutb war ein im westlichen Sinne hoch gebildeter Mann. Und so liest sich sein Hauptwerk Meilensteine über weite Strecken wie ein an westlicher Kulturkritik geschultes Buch, inspiriert von einer Tradition, die von Rousseau bis Adorno reicht. Allein, seine Kritik der Moderne ist mit einer Überwindungsperspektive ausgestattet: dem orthodoxen Islam - den es nie gab.
Doch sein Widerstand gegen den Westen ist immer nur ein Widerstand gegen den Westen im eigenen Land. Der islamische Widerstand hat sich nicht dafür interessiert, Europa zu erobern. Das ist ein Mythos der westlichen Islamkritik. Es ging ihm vielmehr immer darum, die einheimischen Regimes zu stürzen, die als korrupte Agenten des Westens wahrgenommen werden. Übrigens nicht nur von den Islamisten, sondern auch von den kritischen einheimischen Intellektuellen. Dieser Islamismus ist aber eine so radikale wie hilflose Ideologie, die in den meisten islamischen Ländern nur Minderheiten begeistern konnte. Was den Islamismus überraschend stark machte, war seine geradezu begeisterte Aufnahme im Westen. Während er dem Orient dazu verhelfen sollte, sich von der zivilisatorischen, politischen, ökonomischen und militärischen Überfremdung durch den Westen in den eigenen Ländern zu befreien, bot er dem Okzident die Chance, sich als Opfer darzustellen - nämlich als eine vom Islam bedrohte Kultur, die jetzt tun musste, was man seit 200 Jahren längst betrieb: d
en Orient mit dem Napalm der Freiheit und des Humanismus zu überziehen.
Quelle: Bericht von Walter van Rossum: "Staunen über das Abendland"