Gedankenspiel
Stellen wir uns einmal folgendes Szenario vor:
Der russische Auslandsgeheimdienst SWR hat zusammen mit befreundeten Diensten aus China und dem Iran ein weltumspannendes Netzwerk zur Informationsbeschaffung angelegt. Ein Dissident, der von diesem Programm weiß, an ihm mitgearbeitet hat, bekommt Zweifel. „Ich erkannte, dass ich Teil von etwas geworden war, das viel mehr Schaden anrichtete als Nutzen brachte“, sagt er sich und beschließt das Programm aufzudecken. Er flieht aus Moskau und informiert die Öffentlichkeit über die Spitzeltätigkeit der Dienste, über deren enormen Umfang: Milliarden von Datensätzen, E-Mails, Telefonate, Kommunikation in sozialen Netzwerken, Fotos, Chatprotokolle habe sich sein ehemaliger Arbeitgeber angeeignet. Auch 200 Glasfaserkabel, die von Großbritannien aus ins Meer führen, hat der SWR angezapft, sogar Vertretungen der Europäischen Union sollen ausgespäht worden sein.
Wie würden die Massenmedien in Deutschland reagieren?
Auf dem cover der neusten Ausgabe des Spiegels ist ein Chinese vor einem Bildschirm abgebildet und über dieser Abbildung ist zu lesen: "Die gelbe Gefahr". Auf der Titelseite der Bildzeitung ist vielleicht zu lesen: „Warum liest der Irre aus Moskau Ihre E-Mails ?"
Botschafter würden einbestellt, scharfe Protestnoten übergeben, man würde eine "umfassende Aufklärung" versprechen und vielleicht sogar einleiten.
Der Enthüller hätte Schwierigkeiten, sich ein Domizil zu wählen, so zahlreich wären die Asylangebote aus westlichen Demokratien, die im Einklang mit ihrer Menschenrechtsagenda darum wetteiferten, wer denn nun den Helden vor den ihn jagenden Despoten retten dürfe.
Die internationale Wertegemeinschaft wäre sich einig, dass hier eine Grenze überschritten worden ist, vielleicht käme es zu Sanktionen oder dem Abbruch diplomatischer Beziehungen, auf jeden Fall würde man sich verbitten, dass dergleichen je wieder vorkomme.
Von "Schurkenstaaten" wäre die Rede, von denen gar nichts anderes zu erwarten sei, als dass sie ihre eigenen Bürger und die ganze Welt gleich mit überwachen, denn schließen handle es sich ja um autokratische Regime, denen die Errungenschaften der liberalen Demokratie fremd seien.
Und wie sieht nun die Realität aus?:
Keiner kann sich wahrscheinlich vorstellen, dass auf der Titelseite der Bildzeitung (nicht einmal bei der Bildzeitung!) irgendwann einmal zu lesen sein könnte: „Warum liest der Irre aus den Vereinigten Staaten von Amerika Ihre E-Mails?“
Wurden amerikanische Botschafter einbestellt und diesen scharfe Protestnoten übergeben?
Hat mittlerweile irgend ein Staat Snowden Asyl gewährt?
Kam es zu Sanktionen gegen die „Schnüffelstaaten“? Wurden diplomatische Beziehungen abgebrochen?
Kann sich irgend jemand vorstellen, dass die USA, von westlichen Massenmedien, als ein Schurkenstaat jemals bezeichnet werden könnte?
(Gut, Noam Chomsky hat sein Land einst als Terrorstaat bezeichnet ; Michael Moor, Oliver Stone u.v.m. kritisieren ihre Regierung – aber das sind ja auch Amerikaner, welche sich noch wagen ihre Regierung zu kritisieren bzw. dessen Taten zu hinterfragen. Und überhaupt handelt es sich hierbei doch sowieso nur um die „üblichen Verdächtigen“).
Nein?
Dann stellt sich doch die Frage, ob bspw. unserer Bundesregierung letztendlich gar nichts anderes übrig bleibt, als in dieser Angelegenheit eigentlich gar nichts zu tun.
Denn das Problem ist offenkundig: Es sind die Partner, die Freunde, die Wahrer von Demokratie und Freiheit, deren Datensammelwut nun international Schlagzeilen macht.
Kurz: Snowden und sein Material interessieren überhaupt nicht. Wir fragen in den USA nach, unsere Partner und Freunde werden uns schon weiterhelfen. Es ist, als ob man nach einem Banküberfall den mutmaßlichen Täter zum einzig glaubwürdigen Zeugen erklärte. Diesem Ermittlungsverfahren entsprechen auch die Ergebnisse, die es hervorbringt.
"Herr Seibert, ich möchte mich auf Ihre Formulierung beziehen, dass Sie bei dem Bemühen um Aufklärung in den letzten Tagen gut vorangekommen sind. Heißt das, dass Sie inzwischen beurteilen können, ob die Berichte, die wir gelesen haben, den Tatsachen entsprachen oder ob daran Zweifel angebracht sind?"
Steffen Seibert: "Wenn ich gesagt habe, dass wir da in den letzten Tagen ein Stück weitergekommen sind, dann habe ich gemeint: Wir sind sozusagen bei der Organisierung des Prozesses weitergekommen."
Rund einen Monat nach der Offenlegung des zumindest quantitativ umfassendsten Spionageprogramms der Menschheitsgeschichte kann die Bundesregierung stolz verkünden, sie sei bei der "Organisierung des Prozesses" des Bemühens um Aufklärung "weitergekommen" - die Daten der Deutschen sind also so sicher wie ihre Renten.
Aber vielleicht ist der Grund für die Handlungsunfähigkeit nicht der, dass die Bundesregierung nicht unsere Freunde düpieren möchte, sondern der, dass sie einfach überfordert ist. Und die Thematik noch gar nicht so erfassen kann.
Denn wie wir ja von der Bundeskanzlerin wissen, ist das Internet und dieser ganze „technische Schnickschnack“, ja doch noch alles NEULAND!
(Ah ja! Und wo liegt NEULAND?)