„Deutschland geht es gut!“
Eine Phrase, welche im ersten Augenblick sich nett anhört, ABER welchen Sinn macht solch eine Aussage?
Es gibt Wissenschaftler, welche einen Zusammenhang zwischen der sozialen Gerechtigkeit in einem Land und der Wahlbeteiligung in diesem Land festgestellt haben wollen!
Diese Wissenschaftler gehen davon aus, dass, je größer die soziale Gerechtigkeit ist und je zufriedener die Menschen sind, desto größer die Wahlbeteiligung sei, so die Aussage.
Als Beispiel werden hier die skandinavischen Länder angeführt wo die soziale Gerechtigkeit (hier laufen die Löhne und Gehälter nicht so diametral auseinander wie in anderen Ländern) größer ist, bspw. als in anderen europäischen Staaten.
Wer eine solche Aussage nicht anzweifelt müsste dann eigentlich logischerweise zu den Schluss gelangen, dass eine Wahlbeteiligung in Deutschland von 71,5 Prozent (d.h. von 60 Mio. Wahlberechtigten haben 42,9 Mio. von ihrem Wahlrecht Gebrauch gemacht und
17,1 Mio.
Wähler haben hierauf verzichtet) eher verdeutlicht, dass 28,5 % der Wahlberechtigten nicht der Ansicht sind, dass es ihnen persönlich gut geht und, dass sie zudem der Überzeugung kamen, dass an diesem Zustand auch KEINE Partei irgend etwas ändern könnte (dies ergab eine Umfrage bei den Nichtwählern, welche genau diesen Grund für ihr passives Wahlverhalten angaben!).
Erwähnenswert in diesem Zusammenhang ist dann eventuell auch, dass die Wahlbeteiligung ab 1983 (damals lag diese bei: 89,1 Prozent), mehr oder minder (vereinzelte Ausnahmen bestätigen die Regel), fällt!
Oder, beruht demnach die Aussage: „Deutschland geht es gut“ auf der Wahrnehmung der Bürger hierzulande, wie außerhalb Deutschlands, dass der Rückgang der deutschen Arbeitslosigkeit, im Vergleich zu den meisten anderen europäischen Arbeitsmärkte, so zentral aus der Entwicklung hervorsticht?
Es ist wohl nicht falsch, dass die Arbeitslosenquote in Deutschland niedriger ist, als in anderen europäischen Ländern! Allerdings sollte hierbei nicht vergessen werden, dass im Jahr 2002 in Deutschland ca. 4 Mio. Menschen arbeitslos gemeldet waren und zur Zeit ca. 3 Mio. Menschen Arbeit suchen.
Bedenken wir nun, dass die Agentur für Arbeit immer bemüht ist die Statistik „schönzurechnen“ (Arbeitslose, welche sich in Umschulungs- und / oder Weiterbildungsmaßnahmen befinden oder, denen gerade eine Sperre erteilt wurde, werden in der Arbeitslosenstatistik für diesen Zeitraum NICHT erfasst!) und, dass aufgrund der Geburtenrückgänge und unter Berücksichtigung des Demographiewandels weniger deutsche Arbeitssuchende auf den deutschen Arbeitsmarkt „drängen“, ist der Rückgang der Arbeitslosen von vier Millionen im Jahr 2002 auf knapp drei Millionen im Jahr 2013 bestimmt keine Meisterleistung (trotz, ach so tollen Reformen und Einschnitten, welche eine Agenda 2010 mit sich brachte).
Stattdessen ist ein Niedriglohnsektor, in den letzten zehn Jahren,in Deutschland exorbitant angestiegen.
Wer nun jetzt sogar die Arbeitslosen, Arbeiter und Arbeitnehmer im Niedriglohnsektor, Tagelöhner, und „Minijobber“ in eine Kategorie einordnet (unter dem Aspekt, dass diese Menschen finanziell betrachtet, gleich gestellt sind), wird auf die überwältigende Zahl von ca. 9 Millionen Menschen gelangen!
Demnach wird wohl auch diese Gruppe nicht wirklich behaupten, dass es ihnen (finanziell betrachtet) gut geht!
Das ganze Gerede vom „uns geht’s doch gut“ ist Mumpitz, weil man dabei (bewusst oder unbewusst) nur an der Oberfläche der Wirklichkeit kratzt statt zu versuchen, ihre Zusammenhänge und Strukturen zu verstehen. Besonders klar sieht man das an der Lohnentwicklung, vergleicht man die deutsche etwa mit der französischen. Der Reallohn pro Stunde (hier mit mehreren Deflatoren berechnet) lag zu Beginn der Währungsunion, also vor der deutschen Lohnsenkungsstrategie, fast genau gleichauf mit Frankreich bei etwa 24 Euro. Im Jahre 2013 liegt der Lohn in Frankreich bei 28 Euro, in Deutschland leicht über 25 Euro. Und das bei einer fast genau übereinstimmenden Produktivitätsentwicklung in beiden Ländern.
Dieses Bild müsste in den Koalitionsverhandlungen hin- und hergewendet werden, bis die Politiker verstanden haben, dass es einem Land nicht gut geht, das erst seine Löhne im Vergleich zu seinen Handelspartnern senkt, um diese nieder zu konkurrieren, und dann den gleichen Handelspartnern alle seine Ersparnisse anvertraut, weil die sonst seine Güter gar nicht kaufen können. Wenn das gleiche Land dann auch noch darüber klagt, dass es seine Nachbarn unterstützen muss, weil die nicht mehr automatisch Kredite am Kapitalmarkt zu günstigen Zinsen bekommen, steht die Welt Kopf. Mit einer Kopf stehenden Welt kann man aber kein einziges Problem lösen.
Wenn Deutschland die Rolle endlich ausfüllen würde, die „Lokomotive Europas“ zu sein , welche die Vereinigten Staaten von Amerika gerne von Deutschland sehen würden, wenn Deutschland endlich wieder ein normaler Handelspartner in dieser Welt werden kann, ohne Überschüsse in der Leistungsbilanz, ja sogar mit Defiziten, weil die Schuldner ja ihre Schulden zurückzahlen sollen und wollen, dann sollte sich jeder die Frage stellen, wie die deutschen Unternehmen wieder zu Schuldnern und Investoren gemacht werden können. Und schließlich, welche Rolle der Staat bei der notwendigen Verschuldung spielen soll, eine aktive durch eigene Verschuldung oder eine passive, indem er die Unternehmen in die Verschuldung drängt.
Kaum wurde in Deutschland gewählt, wird auch schon wieder neoliberales Gedankengut verbreitet!
So postuliert das Institut für Weltwirtschaft“, dass nur durch Flexibilität und hohe Beschäftigungsraten Deutschland im weltweiten Wettbewerb bestehen kann.
Da ist sie wieder, die berühmte Flexibilität auf den Arbeitsmärkten, die wie nichts anderes das Mantra der Neoliberalen in den vergangenen Jahrzehnten war. Bevor nicht der letzte Schutz für die Arbeitnehmer im Arbeitsprozess gefallen ist, gibt es einfach keine ausreichende „Flexibilität“, und genau so lange kann die deutsche Industrie keine Ruhe geben.
Das muss man sich vorstellen: Ein Land, das durch Lohnmoderation in einer Währungsunion seine Nachbarn schon fast bis zum politischen Zusammenbruch in die Enge getrieben hat, wird jetzt aufgefordert, eine zweite Stufe der Reformen zu zünden, um noch wettbewerbsfähiger zu werden, statt seinen Handelspartnern eine Chance zu geben. Dies ist an Zynismus und Chauvinismus kaum noch zu überbieten.
(Das Gebräu, das der frühere Bundesminister für Wirtschaft und Arbeit Wolfgang Clement mit der Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft (INSM) unter dem Namen „Chance 2020“ zusammengemixt hat, geht genau in die gleiche Richtung).
Damit kann man heute schon sagen, dass das Ergebnis der Koalitionsverhandlungen zu dem wichtigsten aller Themen schweigen wird, nämlich zu der Frage, wie die neuen Ersparnisse der Deutschen, die auch in diesem Jahr wieder in ihrer vollen Höhe von 180 Milliarden, also zu einhundert Prozent, dem Ausland als Kredit zum Kauf deutscher Güter gegeben werden, in Zukunft verwendet werden sollen.
Dieses Thema entscheidet über viele andere: Über das Schicksal des Euro und Europas, über Deutschlands Rolle in der Welt, über die Ungleichheit und die Gerechtigkeit in der Gesellschaft, über die Steuern für Unternehmen und Begüterte, über die Rente, über die Investitionen für die Zukunft, über die Arbeitslosigkeit und über die Frage, ob man eine ökologische Wende bei erträglichen wirtschaftlichen Bedingungen hinbekommt.
Zum zehnten Jahrestag der Agenda 2010 wurde die alte Agenda befürwortet und die Notwendigkeit „weiterer Reformen“ betont. Besonders pikant dabei ist, dass die deutschen Agenden jetzt als Exportmodell für die übrigen europäischen Staaten verkauft werden.
Jetzt kurz nach dem Jahrestag „zehn Jahre Agenda 2010“ geht die Mobilisierung der konservativen, neoliberalen, Kapitalvertreter und Sozialdemokraten für neue „Reformen“ weiter.
Ein zentraler Aufschlag dafür ist die INSM- Initiative. Die Unterstützung für weitere Umstrukturierung von unten nach oben wird natürlich zentraler Bestandteil aller Koalitionsverhandlungen sein.
Insbesondere die Sozialdemokraten sind glühende Verfechter weiterer Reformen, SPD- Chef Sigmar Gabriel pflichtete Schröder bei: „Die Agenda 2010 war sehr erfolgreich.“ Kanzlerkandidat Peer Steinbrück kritisierte die „zeitweilig distanzierte Haltung“ von Teilen der SPD zu dieser „epochalen Reform“. Er betonte, die SPD hätte viel selbstbewusster und stolzer damit umgehen müssen.
Keine Antwort auf ein Lebensproblem ist je die einzige. Und dies gilt für die Wissenschaft wie für alle praktischen Probleme. Die Geschichte der Wisssenschaft ist das schönste Beispiel hierfür. Die Wissenschaftler haben ihr Weltbild in den letzten zweihundert Jahren so oft und so radikal verändert, so dass eine Antwort in einem gewissen Moment viabel ist. Dann erweitert sich die Erfahrungswelt, die Viabilität zerbröckelt und mit der Zeit findet man eine neue Antwort, die dann wiederum viabel ist. Viabel aber nur zu einer Zeit, welche gegeben ist. Aber dies ist eine relative Wahrheit in dem Sinn und bezieht sich in keiner Weise auf eine unabängige Realität. - Ernst von Glaserfeld