Anna Katharina Hahn: Aus und davon
Der Zeitung von heute entnehme ich, dass die Stuttgarter Schriftstellerin Anna Katharina Hahn am 9. November den mit 12 000 Euro dotierten Buchpreis der Stiftung Ravensburger Verlag für ihren Roman "Aus und davon" erhält. Der Preis geht jährlich an einen Autor oder Autorin, die in einer deutschsprachigen Publikation erzählender Prosa "mit literarischen Stilmitteln ein zeitgenössisches Bild der Familie zeichnet".
Mich persönlich freut das sehr - war ich doch erst kürzlich bei einer AutorInnenlesung mit Anna Katharina Hahn, bei der sie aus diesem, ihrem neuesten Werk, vorlas, und das, zusammen mit dem sich anschließenden moderierten Gespräch, hat mich so neugierig auf das Buch gemacht, dass ich es an diesem Abend erwarb und inzwischen auch gelesen habe.
Eine katholische Mainzer Frohnatur und eine protestantische Stuttgarter Pietistin, die ihre Tochter mit den Bibelworten "Der Herr segne und behüte dich, der Herr lasse sein Angesicht über dir leuchten und gebe dir Frieden" verabschiedet - kann das gut gehen? Lange, fünf Jahrzehnte lang, ist es gut gegangen in diesem Roman. Aber jetzt, im Alter und nach einem Schlaganfall, macht sich Hinz ohne Ankündigung auf und davon. Steigt ins Taxi zu einer anderen Frau, die die zurückgelassene Gattin nur verschwommen sieht.
Eine Katastrophe in den wohlgeordneten bürgerlichen Verhältnissen der schwäbischen Metropole, eine langjährige Ehe zerstört. Der abtrünnige Ehemann weiß seiner Tochter gegenüber nichts anderes zu sagen als: "Sie macht mich schalou. Du weißt doch, wie sie ist. Keine Freude."
Anna Katharina Hahn, 1970 in Ruit auf den Fildern geboren, gilt seit ihrem Debütroman "Kürzere Tage" nicht zu Unrecht als Chronistin jenes Milieus, das auch "Aus und davon" prägt: Leib-feindliche Strenge und Pflichtbewusstsein sind buchstäblich verkörpert in der Protagonistin Elisabeth, die die Leser aus der Perspektive ihres Enkels Bruno zu sehen bekommen. Eli-Omi ist lang und dünn, trägt immer Hosen mit Anzugjacken und die Haare zu einem Helm getürmt - der Körper als Festung gegen jedweden Kontrollverlust - wie er sich im Gegenzug in der genussfreudigen Fettleibigkeit des achtjährigen Jungen Bahn bricht. Auch Brunos Urgroßmutter Trudele war in jungen Jahren von ungehemmter Esslust befallen, nachdem sie als Kindermädchen zum Geldverdienen in die USA geschickt worden war und dort Zeugin einer Familientragödie wurde: sehr eindringlich schildert die Autorin, wie Trude in einem Anfall von Hunger ihrem geliebten Gefährten Linsenmaier, einer wie im Märchen zum Denken und Fühlen gebrachten Stoffpuppe, den Leib aufschlitzt, um dessen Inhalt zuzubereiten - auch eine Form von Kannibalismus. "Gerettet" wird die junge Frau dann von ihrem Verlobten Alfred, einem gottesfürchtigen Ingenieur, der ihr strenge Briefe schreibt und sie heim ins pietistische Schwabenland führt.
Anna Katharina Hahn erzählt in "Aus und davon" die Geschichte einer Familie über vier Generationen hinweg, und man muss das Buch nicht wie ihr Verlag als den "Familienroman des 21. Jahrhunderts" anpreisen, um es als ein so vielstimmiges wie detailreiches, sinnliches, anschauliches Familienpsychogramm zu würdigen - in Zeiten, in denen Väter und Ehemänner zunehmend abhanden kommen, traditionelle Bindungen immer brüchiger werden, die Individualisierung zunimmt und die Kommunikation oft nur noch über digitale Medien läuft. Die Frauen in diesem Roman sind weitgehend auf sich allein gestellt, ihnen obliegen Pflege und Fürsorge, auch wenn sie andererseits beruflich - wie Elisabeth als Betreiberin eines Reisebüros - reüssiert haben.
Anna Katharina Hahn hat den Radius ihres Erzählens diesmal bis in die USA ausgeweitet, wohin sich Elisabeths Tochter Cornelia, eine drahtige Physiotherapeutin, aufgemacht hat, weil sie in ihrem chaotischen Leben als alleinerziehende Geschiedene eine Auszeit braucht - und weil sie sich auf die Spuren ihrer Großmutter begeben will. Ihr Ex-Mann Dimi, Dimitrios Chatzis, eine Jugendliebe, hat sich nach Griechenland abgesetzt, ins Land seiner Mutter: so wie der syrische Schwarm von Stella - Cornelias ultrahübscher Tochter - ferngesteuert von seiner Mutter, einer Zahnärztin, von Stuttgart nach Berlin zu einem Onkel zieht. Männer überall auf der Flucht: "Du hast jetzt eine Verantwortung. Aber du bist ganz allein", denkt Elisabeth, nachdem sie für vier Wochen ihre Tochter zu ersetzen versucht. Dabei werden diese von der Autorin keineswegs als toxische Monster geschildert. Im Gegenteil: Eli-Omas Mann Hinz ist bis zu seinem Schlaganfall ein fröhlicher, sinnenfroher, liebevoller, charmanter und schlagfertiger Mensch gewesen, der seine Töchter mit Schwänken aus seiner Jugend erfreut hat. Mit dem Vater ihrer Kinder pflegt Cornelia nach wie vor einen freundschaftlichen, wenn nicht liebevollen Umgang. Und der junge Hamid ist ohnehin ein Exemplar vom Typus Musterschwiegersohn.
Mit dem unbestechlichen Blick einer Forscherin schaut die Autorin auf ihre Experimentieranordnung, in der zwei Felder eine besondere Aufmerksamkeit genießen: das Essen und die Tiere. Bruno freundet sich mit einer wilden Katze an, Hinz war Hobby-Taubenzüchter, der seiner Frau etwas vom Liebesspiel der Tauben vermitteln wollte: vergeblich, denn Sex und Sinneslust sind der Tochter des ultrafrommen Paares Trudele und Alfred fremd. Kompensatorisch (?) wird viel gekocht in diesem Buch, zur Freude von Bruno, dessen mütterliches Diätprogramm über den Haufen geworfen wird.
Eine Lösung für die Vielzahl der Baustellen, die der Roman nicht ohne grimmigen Humor eingerichtet hat, ist nicht in Sicht. Nicht zuletzt ist das der multiperspektivischen Erzählhaltung geschuldet, die sogar Puppe Linsenmaier einschließt. Vielleicht liegen Trost und Heil am Ende allein im Schreiben - Elisabeth bringt während ihres Exils im Haushalt der Tochter die Geschichte ihrer Mutter in zwei dicht gefüllten Schreibheften zu Papier. Sie ist quasi die Mitautorin dieses Buchs über Lebensbrüche, die in Schreibbrüchen ihr Echo haben.
Klare Leseempfehlung von mir!
Anna Katharina Hahn: Aus und davon. Roman. Suhrkamp Verlag, Berlin 2020, 302 Seiten, 24,00 €.
Und für diejenigen, die möglicher Weise selbst unmittelbare Erfahrungen mit dem pietistischen württembergischen Milieu gemacht haben oder gar darin aufgewachsen sind, sei an dieser Stelle zusätzlich zu dem besprochenen Roman auf ein interessantes Sachbuch(!) zu diesem Thema hingewiesen:
Dorothee Markert: Lebenslänglich besser. Unser verdrängtes pietistisches Erbe. Sie beschreibt ihr Anliegen folgendermaßen: "Zeigen möchte ich mit meinem Buch, wie stark unsere Kultur vom Pietismus geprägt ist, obwohl sie so tut, als sei sie vor allem ein Kind der Aufklärung" (S. 14).
Viele Menschen kennen den Pietismus, ursprünglich eine protestantische Erneuerungsbewegung im 17. und 18. Jahrhundert, heute nicht einmal mehr dem Namen nach. Und doch, so behauptet die Autorin, sind wir alle stark durch den Pietismus beeinflusst, denn er beschränkt sich keineswegs nur auf theologische Fragen sondern hat auch starke Einflüsse auf die sozialgeschichtlichen Entwicklungen. Der Pietismus dringt auf Individualisierung und Verinnerlichung des religiösen Lebens, entwickelt neue Formen persönlicher Frömmigkeit und gemeinschaftlichen Lebens, führt zu durchgreifenden Reformen in Theologie und Kirche und hinterlässt tiefe Spuren im gesellschaftlichen und kulturellen Leben der von ihm erfassten Länder(S.8). Er wirkt sich auf unser Arbeitsverhalten aus und auf den Drang, die Welt zu verbessern, der sich in sehr unterschiedlichen, manchmal scheinbar gegensätzlichen Bewegungen artikuliert. Noch wenig erforscht ist der Zusammenhang zwischen Pietismus und Aufklärung und vor allem der zwischen Pietismus und Sozialismus. Die gefährlichste Verwandtschaft zwischen diesen drei und weiteren Bewegungen zur "Weltveränderung durch Menschenveränderung" besteht in ihrer Tendenz zum Fundamentalismus. Wie Fundamentalismus entsteht und wie wir ihm möglicherweise entgegen wirken können, untersucht die Autorin im Schlusskapitel ihres Buches. Eine wichtige Grundlage ihres Buches bilden sechzehn Fragebogeninterviews mit pietistisch erzogenen Menschen, deren Ergebnisse im ersten Teil des Buches in ihren negativen und positiven Aspekten dargestellt werden (Kap. 1 - 3). Im zweiten Teil erweitert sich der Blickwinkel hin zum pietistischen Einfluss auf unsere Kultur insgesamt. Genauer untersucht werden unsere Einstellung zur Arbeit (Kap. 4), der Drang, die Welt zu verbessern und einen neuen Menschen zu schaffen, insbesondere die Einflüsse des Pietismus auf den Sozialismus (Kap. 5), die Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen Pietismus und Aufklärung (Kap. 6) und die gefährliche Enge und Strenge, die durch dualistische Zweiteilungen der Welt und die entsprechenden Polarisierungen und Frontenbildung entsteht (Kap. 7).
Markert ist Jahrgang 1950, promovierte Pädagogin, freie Autorin und Lerntherapeutin. Sie lebt in der Nähe von Freiburg im Breisgau.
Broschiert. Books on demand, 215 Seiten, 16,90 €. ISBN 978-3-8391-9542-0, Norderstedt 2010.