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Köllefornia
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Was liest Du gerade? (3)

******ive Mann
6.497 Beiträge
Themenersteller 
@*********chen Das sehe ich genauso.

Nur den Buchtitel und den Autoren zu nennen gibt einem oft nicht mal eine vage Vorstellung, um welche Art von Lektüre es sich überhaupt handelt. Mit ein paar persönlichen Worten hingegen bekommen wir eine deutlich bessere Idee, was uns beim Lesen des entsprechendes Buches erwartet.
*******sima Frau
2.537 Beiträge
Der blaue Himmel ist unheimlich
Zwei packende Bücher über den 11. September 2001 und die Menschen, die das Inferno miterlebten.

Der nächste runde Jahrestag ist erst 2021. Dann werden die Bilder von den Terrorangriffen auf das World Trade Center (WTC) am 11. September 2001 in New York wieder allgegenwärtig sein. Abermals werden wir sehen, wie zwei Boeings in die Zwillingstürme rasen, wie nach deren Einsturz eine riesige Staubwolke durch die Straßen treibt . Wer damals vor dem Fernseher saß, wird sich erinnern an den Schock, den die Ereignisse auch außerhalb der USA auslösten. Schon jetzt aber kann man sich vergegenwärtigen, wie es die Menschen vor Ort erlebten. Zwei Bücher erzählen aus dem Inneren von 9/11, lassen Menschen zu Wort kommen, die dem Inferno von Manhattan entkamen:

Mitchell Zuckoff: 9/11 - Der Tag, an dem die Welt stehen blieb. Aus dem Amerikanischen von Tobias Schnettler, S.Fischer Verlag, Frankfurt 2020, 702 Seiten, 28,00 €.

Garrett M. Graff: Und auf einmal diese Stille - Die Oral History des 11. September. Aus dem Amerikanischen von Philipp Albers und Hannes Meyer. Suhrkamp Verlag, Frankfurt 2020. 542 Seiten, 20,00 €.

Mitchell Zuckoff und Garret M. Graff sind amerikanische Journalisten. Zuckoff kommt von der Zeitung Boston Globe. Zwei der entführten Flugzeuge waren damals in Boston gestartet, deshalb saßen Menschen aus seiner Stadt darin. In einer Reportage erzählte Zuckoff wenige Tagen nach dem 11. September exemplarisch von einigen. "9/11 - Der Tag, an dem die Welt stehen blieb" folgt der selben Idee. Dutzende Geschichten und Lebensgeschichten hat sich Zuckoff berichten lassen, hat Interviews und Untersuchungsberichte gelesen. Verarbeitet hat er sie zu Schilderungen, die sich lesen, als sei er dabei gewesen.

"Dad, du musst mir bei Mathe helfen!" John Ognowskis älteste Tochter, Laura, rief nach ihrem Vater, sobald er das Farmhaus der Familie im ländlichen Dracut, Massachusetts, betreten hatte", so beginnt das erste Kapitel. Ognowski war Pilot, Vietnamkriegsveteran und Besitzer einer Farm, auf der er mit Frau und drei Töchtern lebte. Einige Äcker hatten sie Einwanderern aus Kambodscha überlassen, die dort asiatisches Gemüse anbauten. Ognowski war der Chefpilot von American Airlines Flight 11. Er wurde von den Flugzeugentführern vermutlich getötet, seine Maschine in den Nordturm des WTC gelenkt. "Kambodschanische Bauern, die auf John Ognowski bauten, würden sich einen neuen Lehrer und Fürsprecher suchen müssen. Seine Frau und seine Töchter würden sich nicht mehr an ihm festhalten können", schreibt Zuckoff, nachdem er 80 Seiten später geschildert hat, wie die Boeing 767 in den Wolkenkratzer flog.

Ehemalige Soldaten lässt Zuckoff viele auftreten. Der heutige Journalistik-Professor hat auch schon einige militärische Heldengeschichten in Buchform geschrieben. Seine 9/11-Chronik ist eine patriotische, sie erzählt von Mut und Tapferkeit, und die Frauen, die Flugbegleiterinnen, sind in ihrer Freizeit für ältere Damen oder für ihre Familie da. Der Inbegriff des selbstlosen Helfers aber sind die New Yorker Feuerwehrleute. Im Nordturm des WTC, kurz nachdem sein später getroffener Zwilling eingestürzt ist, treffen Captain Jay Jonas und seine Einheit Ladder 6 beim Abstieg im Treppenhaus auf eine gehbehinderte Frau. "Jede Faser", schreibt Zuckoff, "in Jays Körper drängte darauf, sich zu beeilen und so weit weg zu kommen, wie nur möglich war." Aber er entscheidet sich, die Frau zu begleiten, 20 Stockwerke hinunter: "Falls Ladder 6 diesen Tag überleben sollte, wollte Jay, dass seine Männer in den Spiegel schauen und den Satz sagen konnten, der sein Lebensmotto war: "Heute war ich ein Feuerwehrmann."" Ladder 6 und die Frau blieben am Leben.

Zuckoffs Buch ist selbst ein Dokument für das, was der 11. September mit den USA gemacht hat, für das Bedürfnis einer Nation nach einem tröstenden Narrativ, vorgetragen von einem väterlichen Erzähler.

Ganz anders dagegen Garrett M.Graffs "Und auf einmal diese Stille - Die Oral History des 11. September". In der Zitatcollage kommen rund 500 Menschen zu Wort: Finanzberater, Militärangestellte, Fluglotsen, Kongressabgeordnete, Fernsehjournalistinnen, Lehrerinnen, Polizistinnen, Sanitäter und Feuerwehrleute.

Der Moment, als das erste Flugzeug zwischen dem 93. und dem 99. Stockwerk im Nordturm des WTC einschlägt, wird so geschildert: Jeder kennt Flugzeuglärm, aber nur sehr wenige Menschen haben jemals den Lärm von Düsentriebwerken gehört, wenn sie mit höchster Leistung, mit voller Kraft voraus in den Himmel steigen. Das ist ein entsetzliches Geräusch. Ich erinnere mich noch sehr gut daran - das Geräusch der Motoren, die mit voller Kraft aufs World Trade Center zufliegen" (Bruno Dellinger, Firmeninhaber, Quint Amasis North America, Nordturm, 47. Stock). "Ich sah, wie der Rumpf des Flugzeugs im Gebäude verschwand" (Cathy Pavelec, Verwaltungsbeamtin, Port Authority Nordturm, 67. Stockwerk). Als der Südturm in sich zusammenfällt, beginnt das Chaos auf der Straße: "Dann ging es los - es regnete Trümmerteile. Alles schlug um einen herum ein. Ich hechtete zu Boden und kauerte mich zusammen. Ich dachte mir "Das war's jetzt"" (Dan Potter, Feuerwehrmann, Ladder 10).

Vom Ground Zero schneidet Graff immer wieder zum Pentagon, wo nach dem Einschlag des dritten Flugzeugs Verteidigungsminister Donald Rumsfeld in einem unversehrten Flügel die Stellung hielt, und nach Shanksville, wo das vierte Flugzeug durch das Eingreifen einiger Passagiere zu Boden gegangen war. Es gibt Schilderungen vom Irrflug von Präsident George W. Bush, den seine Sicherheitsleute nach einem Schulbesuch in Florida nicht nach Washington lassen wollten. Die militärische und politische Dimension des 11. September klingt an. Aber auch die existenzielle Erfahrung, die diese Katastrophe bedeutete.

Graffs Collage, die er mit seinen Lektoren sieben Mal bearbeitet hat, ist sehr literarisch, in der Art, wie die Zitatfolgen montiert sind und einige Motive immer wieder anklingen. Am Anfang des Buches, am Morgen des 11. September, war die Welt noch schön: "Einen so leuchtend blauen Himmel wie an jenem Tag hatte es selten gegeben" (Jeannine All, Rechnungsprüferin, Morgan Stanley, Südturm, 45. Stock). "Ein hinreißendes Blau" (Lt. Jim Daly, Arlington County Police Department). Am Ende des Buchs, als der Flugverkehr über den USA eingestellt ist, ist alles anders: "Ich schaute am Nachmittag nach oben und sah keine Kondensstreifen, kein Flugzeug weit und breit. Der Himmel war blau und leer und still. Blauer Himmel ist mir bis heute unheimlich" (Nate Jones, Student, Wheeton College, Illinois). Der 11. September 2001 hat das Land und seine Menschen verändert.
*********egler Paar
1.597 Beiträge
@*******sima
Eine exzellente Buchbeschreibung!
********gBBW Frau
106 Beiträge
Obwohl ich kein Christ bin, lese ich sehr gerne die Bücher von Pater Anselm. Lässt man den christlichen Hintergrund außen vor, so hat er, in meinen Augen, sehr viel zu sagen, über das es sich nachzudenken lohnt. Gerade lese ich "Was uns wirklich trägt" das er zusammen mit Walter Kohl geschrieben hat.

Daneben lese ich noch eines meiner Lueblingsbücher, "das Glasperlenspiel" von Hermann Hesse. Ein Buch, in dem ich bei jedem lesen, immer wieder Neues entdecke.
*******sima Frau
2.537 Beiträge
3 Leseerlebnisse dieses Sommers:
Niedergemetzelte Mutter, weggesperrte Frauen, angehaltene Luft.

Aber der Reihe nach:

Colm Toibin: Haus der Namen. Roman. Aus dem Englischen von Giovanni und Ditte Bandini. Hanser Verlag, München 2020, 286 S., 24,00 €

Klytaimnestra brennt vor Rachedurst, nachdem ihr Gatte die Erstgeborene hat morden lassen, den Göttern zum Opfer, in der Hoffnung auf günstigen Wind für seine Kriegsflotte. Mit Intrigen und der Unterstützung von Staatsfeinden erreicht sie ihr Ziel. Doch in einer Zeit, in der nur Hunde treu sind, kehrt sich ihr eigen Fleisch und Blut gegen sie, metzelt sie nieder.
Von Sternen, die beim Fallen kein Geräusch machen, ist die Rede, von fliegenumschwärmten Leichenbergen, Spezereien, Lotterstätten - starke Bilder, starke Worte.
Toibin ist der Orestie ungestüm auf den Leib gerückt. Es ist ein blutrünstiger Text, gewalttätig, voller Kraft, der seine Zähne ins Fleisch der Lesenden schlägt.
Nicht wir sind es, die das Buch verschlingen: Es verschlingt uns - so habe jedenfalls ich es bei der Lektüre empfunden.


Victoria Mas: Die Tanzenden. Roman. Aus dem Französischen von Julia Schoch. Piper Verlag, München 2020. 235 Seiten, 20,00 €.

Wenn man sich mit den Geistern Verstorbener unterhielt und zudem das Pech hatte, eine Frau zu sein, konnte man im Paris des 19. Jahrhunderts von seinen männlichen Verwandten schnell zu den Verrückten in die Salpétrière gesperrt werden. Zu denen, die aus guten Gründen hysterisch waren, aufsässig, oder eine eigene Meinung vertraten. Und an denen im Namen der Wissenschaft dubiose Versuche vorgenommen wurden.
Von diesen Frauen, ihrem Leid, ihren Kämpfen erzählt Victoria Mas.
Dass sie es tut, ist anerkennenswert, wie sie es tut, nicht. Mit nichtigen Adjektiven, Floskeln und Schleifchen hat sie ihren Roman gefällig hergerichtet, um ihn einem möglichst großen Publikum anzudienen.
Ein wenig literarischer hätte dieses wichtige Thema schon behandelt werden dürfen.
Ich habe mich jedenfalls darüber geärgert und würde das Buch nicht weiterempfehlen.


Zsofia Bán: Weiter atmen. Erzählungen. Aus dem Ungarischen von Terézia Mora. Suhrkamp Verlag, Berlin 2020. 175 Seiten, 22,00 €.

Tränen wegen eines zurückgewiesenen Stücks Torte, der Sturz einer Artistin aus der Zirkuskuppel, Brustvergrößerungen, Kadaverlöcher, in der Sonne schwimmende Gurken und das zur Zukunftsvision passende Sofa. So schräg das klingen mag - bei Zsófia Bán hat es seine Folgerichtigkeit: Die Protagonisten dieser 19 Erzählungen leben nach festen Regeln und steuern auf den Punkt zu, in dem diese Regeln ihnen nicht mehr helfen. Dann halten sie die Luft an, bis jemand sie auffordert, weiter zu atmen.
Das Atmen durchzieht die Seiten. Und immer wieder zerlegt Bán die Sätze in Segmente, die sie wie Noten arrangiert: Die entstehenden Melodien locken uns zu dem Augenblick, in dem wir begreifen, dass wir sterblich sind. Und tief Luft holen müssen.
***ke Frau
2.039 Beiträge
Bei diesem Buch Wiederholungstäterin ;)
Hans G. Raeth: Die Kunst der Beleidigung. Fackelträger Verlag, Köln 2007.

Ein m. E. herzerfrischender "Spaziergang über das Schlachtfeld der Verbalinjurie" (Raeth 2007: 9) - absolut kurzweilig und gleichsam anregender Impulsgeber für schallendes Lachen.
Annabel Abbs:
Die Tänzerin von Paris
Eine junge Tänzerin ist überaus begabt als Tänzerin des Modern Dance. Allerdings steht sie sehr unter dem Einfluss ihres Vaters, der selbst ein bedeutender Schriftsteller der modernen Literatur ist.Er behindert ihre Weg in die Selbstständigkeit und vereitelt ihre Bemühungen mit ihrer Kunst eigene Wege zu gehen. Irgendwann entkommt sie nicht mehr dem Schatten ihres großen Vaters und erleidet eine Zusammenbruch. Hier fängt dann das Buch an.... Als sie bei dem Psychiater ist und ihr Leben im Nachgang betrachtet wird.
Sehr spannend und gut geschrieben und durchaus sehr erotischen Aspekten.
*******sima Frau
2.537 Beiträge
Anna Katharina Hahn: Aus und davon
Der Zeitung von heute entnehme ich, dass die Stuttgarter Schriftstellerin Anna Katharina Hahn am 9. November den mit 12 000 Euro dotierten Buchpreis der Stiftung Ravensburger Verlag für ihren Roman "Aus und davon" erhält. Der Preis geht jährlich an einen Autor oder Autorin, die in einer deutschsprachigen Publikation erzählender Prosa "mit literarischen Stilmitteln ein zeitgenössisches Bild der Familie zeichnet".

Mich persönlich freut das sehr - war ich doch erst kürzlich bei einer AutorInnenlesung mit Anna Katharina Hahn, bei der sie aus diesem, ihrem neuesten Werk, vorlas, und das, zusammen mit dem sich anschließenden moderierten Gespräch, hat mich so neugierig auf das Buch gemacht, dass ich es an diesem Abend erwarb und inzwischen auch gelesen habe.

Eine katholische Mainzer Frohnatur und eine protestantische Stuttgarter Pietistin, die ihre Tochter mit den Bibelworten "Der Herr segne und behüte dich, der Herr lasse sein Angesicht über dir leuchten und gebe dir Frieden" verabschiedet - kann das gut gehen? Lange, fünf Jahrzehnte lang, ist es gut gegangen in diesem Roman. Aber jetzt, im Alter und nach einem Schlaganfall, macht sich Hinz ohne Ankündigung auf und davon. Steigt ins Taxi zu einer anderen Frau, die die zurückgelassene Gattin nur verschwommen sieht.

Eine Katastrophe in den wohlgeordneten bürgerlichen Verhältnissen der schwäbischen Metropole, eine langjährige Ehe zerstört. Der abtrünnige Ehemann weiß seiner Tochter gegenüber nichts anderes zu sagen als: "Sie macht mich schalou. Du weißt doch, wie sie ist. Keine Freude."

Anna Katharina Hahn, 1970 in Ruit auf den Fildern geboren, gilt seit ihrem Debütroman "Kürzere Tage" nicht zu Unrecht als Chronistin jenes Milieus, das auch "Aus und davon" prägt: Leib-feindliche Strenge und Pflichtbewusstsein sind buchstäblich verkörpert in der Protagonistin Elisabeth, die die Leser aus der Perspektive ihres Enkels Bruno zu sehen bekommen. Eli-Omi ist lang und dünn, trägt immer Hosen mit Anzugjacken und die Haare zu einem Helm getürmt - der Körper als Festung gegen jedweden Kontrollverlust - wie er sich im Gegenzug in der genussfreudigen Fettleibigkeit des achtjährigen Jungen Bahn bricht. Auch Brunos Urgroßmutter Trudele war in jungen Jahren von ungehemmter Esslust befallen, nachdem sie als Kindermädchen zum Geldverdienen in die USA geschickt worden war und dort Zeugin einer Familientragödie wurde: sehr eindringlich schildert die Autorin, wie Trude in einem Anfall von Hunger ihrem geliebten Gefährten Linsenmaier, einer wie im Märchen zum Denken und Fühlen gebrachten Stoffpuppe, den Leib aufschlitzt, um dessen Inhalt zuzubereiten - auch eine Form von Kannibalismus. "Gerettet" wird die junge Frau dann von ihrem Verlobten Alfred, einem gottesfürchtigen Ingenieur, der ihr strenge Briefe schreibt und sie heim ins pietistische Schwabenland führt.

Anna Katharina Hahn erzählt in "Aus und davon" die Geschichte einer Familie über vier Generationen hinweg, und man muss das Buch nicht wie ihr Verlag als den "Familienroman des 21. Jahrhunderts" anpreisen, um es als ein so vielstimmiges wie detailreiches, sinnliches, anschauliches Familienpsychogramm zu würdigen - in Zeiten, in denen Väter und Ehemänner zunehmend abhanden kommen, traditionelle Bindungen immer brüchiger werden, die Individualisierung zunimmt und die Kommunikation oft nur noch über digitale Medien läuft. Die Frauen in diesem Roman sind weitgehend auf sich allein gestellt, ihnen obliegen Pflege und Fürsorge, auch wenn sie andererseits beruflich - wie Elisabeth als Betreiberin eines Reisebüros - reüssiert haben.

Anna Katharina Hahn hat den Radius ihres Erzählens diesmal bis in die USA ausgeweitet, wohin sich Elisabeths Tochter Cornelia, eine drahtige Physiotherapeutin, aufgemacht hat, weil sie in ihrem chaotischen Leben als alleinerziehende Geschiedene eine Auszeit braucht - und weil sie sich auf die Spuren ihrer Großmutter begeben will. Ihr Ex-Mann Dimi, Dimitrios Chatzis, eine Jugendliebe, hat sich nach Griechenland abgesetzt, ins Land seiner Mutter: so wie der syrische Schwarm von Stella - Cornelias ultrahübscher Tochter - ferngesteuert von seiner Mutter, einer Zahnärztin, von Stuttgart nach Berlin zu einem Onkel zieht. Männer überall auf der Flucht: "Du hast jetzt eine Verantwortung. Aber du bist ganz allein", denkt Elisabeth, nachdem sie für vier Wochen ihre Tochter zu ersetzen versucht. Dabei werden diese von der Autorin keineswegs als toxische Monster geschildert. Im Gegenteil: Eli-Omas Mann Hinz ist bis zu seinem Schlaganfall ein fröhlicher, sinnenfroher, liebevoller, charmanter und schlagfertiger Mensch gewesen, der seine Töchter mit Schwänken aus seiner Jugend erfreut hat. Mit dem Vater ihrer Kinder pflegt Cornelia nach wie vor einen freundschaftlichen, wenn nicht liebevollen Umgang. Und der junge Hamid ist ohnehin ein Exemplar vom Typus Musterschwiegersohn.

Mit dem unbestechlichen Blick einer Forscherin schaut die Autorin auf ihre Experimentieranordnung, in der zwei Felder eine besondere Aufmerksamkeit genießen: das Essen und die Tiere. Bruno freundet sich mit einer wilden Katze an, Hinz war Hobby-Taubenzüchter, der seiner Frau etwas vom Liebesspiel der Tauben vermitteln wollte: vergeblich, denn Sex und Sinneslust sind der Tochter des ultrafrommen Paares Trudele und Alfred fremd. Kompensatorisch (?) wird viel gekocht in diesem Buch, zur Freude von Bruno, dessen mütterliches Diätprogramm über den Haufen geworfen wird.

Eine Lösung für die Vielzahl der Baustellen, die der Roman nicht ohne grimmigen Humor eingerichtet hat, ist nicht in Sicht. Nicht zuletzt ist das der multiperspektivischen Erzählhaltung geschuldet, die sogar Puppe Linsenmaier einschließt. Vielleicht liegen Trost und Heil am Ende allein im Schreiben - Elisabeth bringt während ihres Exils im Haushalt der Tochter die Geschichte ihrer Mutter in zwei dicht gefüllten Schreibheften zu Papier. Sie ist quasi die Mitautorin dieses Buchs über Lebensbrüche, die in Schreibbrüchen ihr Echo haben.

Klare Leseempfehlung von mir!

Anna Katharina Hahn: Aus und davon. Roman. Suhrkamp Verlag, Berlin 2020, 302 Seiten, 24,00 €.

Und für diejenigen, die möglicher Weise selbst unmittelbare Erfahrungen mit dem pietistischen württembergischen Milieu gemacht haben oder gar darin aufgewachsen sind, sei an dieser Stelle zusätzlich zu dem besprochenen Roman auf ein interessantes Sachbuch(!) zu diesem Thema hingewiesen:

Dorothee Markert: Lebenslänglich besser. Unser verdrängtes pietistisches Erbe. Sie beschreibt ihr Anliegen folgendermaßen: "Zeigen möchte ich mit meinem Buch, wie stark unsere Kultur vom Pietismus geprägt ist, obwohl sie so tut, als sei sie vor allem ein Kind der Aufklärung" (S. 14).

Viele Menschen kennen den Pietismus, ursprünglich eine protestantische Erneuerungsbewegung im 17. und 18. Jahrhundert, heute nicht einmal mehr dem Namen nach. Und doch, so behauptet die Autorin, sind wir alle stark durch den Pietismus beeinflusst, denn er beschränkt sich keineswegs nur auf theologische Fragen sondern hat auch starke Einflüsse auf die sozialgeschichtlichen Entwicklungen. Der Pietismus dringt auf Individualisierung und Verinnerlichung des religiösen Lebens, entwickelt neue Formen persönlicher Frömmigkeit und gemeinschaftlichen Lebens, führt zu durchgreifenden Reformen in Theologie und Kirche und hinterlässt tiefe Spuren im gesellschaftlichen und kulturellen Leben der von ihm erfassten Länder(S.8). Er wirkt sich auf unser Arbeitsverhalten aus und auf den Drang, die Welt zu verbessern, der sich in sehr unterschiedlichen, manchmal scheinbar gegensätzlichen Bewegungen artikuliert. Noch wenig erforscht ist der Zusammenhang zwischen Pietismus und Aufklärung und vor allem der zwischen Pietismus und Sozialismus. Die gefährlichste Verwandtschaft zwischen diesen drei und weiteren Bewegungen zur "Weltveränderung durch Menschenveränderung" besteht in ihrer Tendenz zum Fundamentalismus. Wie Fundamentalismus entsteht und wie wir ihm möglicherweise entgegen wirken können, untersucht die Autorin im Schlusskapitel ihres Buches. Eine wichtige Grundlage ihres Buches bilden sechzehn Fragebogeninterviews mit pietistisch erzogenen Menschen, deren Ergebnisse im ersten Teil des Buches in ihren negativen und positiven Aspekten dargestellt werden (Kap. 1 - 3). Im zweiten Teil erweitert sich der Blickwinkel hin zum pietistischen Einfluss auf unsere Kultur insgesamt. Genauer untersucht werden unsere Einstellung zur Arbeit (Kap. 4), der Drang, die Welt zu verbessern und einen neuen Menschen zu schaffen, insbesondere die Einflüsse des Pietismus auf den Sozialismus (Kap. 5), die Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen Pietismus und Aufklärung (Kap. 6) und die gefährliche Enge und Strenge, die durch dualistische Zweiteilungen der Welt und die entsprechenden Polarisierungen und Frontenbildung entsteht (Kap. 7).

Markert ist Jahrgang 1950, promovierte Pädagogin, freie Autorin und Lerntherapeutin. Sie lebt in der Nähe von Freiburg im Breisgau.

Broschiert. Books on demand, 215 Seiten, 16,90 €. ISBN 978-3-8391-9542-0, Norderstedt 2010.
********rlin Frau
4.012 Beiträge
@*******sima WOW !!! Du hast es sowas von drauf ! Chapeau
*********chen Frau
397 Beiträge
@*******sima

immer wieder ein genuss deine rezensionen *knicks*
*********er21 Frau
10.725 Beiträge
"Becoming" von Michelle Obama und es ist nicht so amerikanisch furchtbar pathetisch, wie ich befürchtet habe...
Beate Rygiert: Die Pianistin Clara Schumann und die Musik der Liebe.
Das Bild einer großen Pianistin die sich gegenalle Widerstände zu ihrer Liebe bekennt.
Am Anfang wird ihr Ausstieg als Wunderkind und das Verhältnis zu ihrem Vater sehr ausführlich, ja fast langatmig, beschrieben. IHre Liebe und ihr Kampf um die Ehe mit Robert Schumann wird daher etwas eingekürzt.
Das Eheleben und die Krankheit ihres Mannes und ihr Verhältnis zu Johannes Brahms könnte etwas intensiver betrachtet werden, aber dennoch ein gutes Buch, welches die damalige Zeit und das Leben in Künstlerkreisen sehr realistisch darstellen.
Durchaus lesenswert, fällt aber gegen andere Bücher aus der Reihe etwas ab.
*********er21 Frau
10.725 Beiträge
Zwischen Ruhm und Ehre liegt die Nacht von Andrea Petkovic.

Sie schreibt toll und hat einiges zu erzählen.
Momo
*****747 Mann
9 Beiträge
Proust Auf der Suche nach der verlorenen Zeit

... Sprachschönheit in ihrer reinsten Form. Ein wunderbares Werk um abzutauchen, dabei ein Stück Madeleine in den Tee einzutauchen (die Schlüsselszene des Buchs) und dem Autor und seinen Glücksgefühlen zu folgen
*******Hutz Paar
569 Beiträge
Quality Land 2.0, genial *g*
Michael Nast: Ist das Liebe oder kann das weg?
Vom sonderbaren Verhalten geschlechtsreifer Großstädter.
Spielt in Berlin und spiegelt auch einen Blick auf die unterschiedlichen Stadtteile wieder. Sehr unterhaltsam geschrieben und zeigt auch, dass auch die Herren über eine gute Beobachtsgabe verfügen. In bestimmten Bereichen auf jeden Fall.
****ay Frau
394 Beiträge
Robert Kyosaki - Rich Dad, Poor Dad
*****ana Frau
89 Beiträge
Ken Follett - Das Fundament der Ewigkeit, fange es gerade an....
******ive Mann
6.497 Beiträge
Themenersteller 
@****ay
@*****ana

Wenn Ihr mögt, könnt Ihr gerne noch ein oder zwei Sätze mehr zu Eurem jeweiligen Buch schreiben. Dann bringt Ihr vielleicht andere auch zum Lesen dieses Buches, ohne dass diese erst recherchieren müssen, worum es denn überhaupt geht.
*****ana Frau
89 Beiträge
Es geht um englische Geschichte, den Kampf zwischen Katholiken und Protestanten, Mary Tudor, die als erzkatholische Königin die Protestanten verfolgt hat und der Aufstieg Königin Elisabeth I. Mehr kann ich noch nicht sagen, ich habe gerade erst angefangen.
Aber es ist der dritte Teil von Folletts Kingsbridge-Saga.
****ay Frau
394 Beiträge
OK, das hier ist die Beschreibung bei Amazon zum Buch von oben:

Warum bleiben die Reichen reich und die Armen arm? Weil die Reichen ihren Kindern beibringen, wie sie mit Geld umgehen müssen, und die anderen nicht! Die meisten Angestellten verbringen im Laufe ihrer Ausbildung lieber Jahr um Jahr in Schule und Universität, wo sie nichts über Geld lernen, statt selbst erfolgreich zu werden.
Robert T. Kiyosaki hatte in seiner Jugend einen »Rich Dad« und einen »Poor Dad«. Nachdem er die Ratschläge des Ersteren beherzigt hatte, konnte er sich mit 47 Jahren zur Ruhe setzen. Er hatte gelernt, Geld für sich arbeiten zu lassen, statt andersherum. In Rich Dad Poor Dad teilt er sein Wissen und zeigt, wie jeder erfolgreich sein kann.
******ual Frau
37 Beiträge
Gerade lese ich "Die geheimen Aufzeichnungen des Don Rigoberto" von Mario Vargas Llosa. Die pralle Sinnlichkeit, die flirrende Erotik und die bildreiche Sprache stellen ein gutes Gegengewicht zur jetzigen Zeit dar. Außerdem ist der Autor einfach nur ein begnadeter Erzähler, dessen Sätze sich so angenehm lesen.
*******sima Frau
2.537 Beiträge
Sophy Roberts, Sibiriens vergessene Klaviere
"Eine außerordentliche Reise durch Musik, Exil und Landschaft.“ (Edmund de Waal) – Sophy Roberts‘ außergewöhnliche Spurensuche in die Vergangenheit und Gegenwart Sibiriens

Sibirien, das ist unerbittliche Kälte und enorme Weite. Sibirien, dieses Gefängnis ohne Dach, ist aber ebenso von verblüffender Schönheit. Welch bedeutende Rolle ausgerechnet hier Klaviere als Symbol europäischer Kultur spielen, zeigt die Britin Sophy Roberts auf ihrer extravaganten Spurensuche. Dabei gelingt es ihr nicht nur, zahlreiche einst berühmte Instrumente zwischen dem Ural und der Insel Sachalin ausfindig zu machen, sondern auch ihre Geschichten zu rekonstruieren: von der Pianomanie der Zarenzeit bis zur Leidenschaft des Lotsen der Aeroflot, von der sowjetischen Manufaktur „Roter Oktober“ bis zur jungen mongolischen Pianistin Odgorel, die in ihrer Jurte Bach spielt. Sophy Roberts‘ Erkundungen führen tief in das Herz der Geschichte und erzählen uns nicht weniger von der Gegenwart.

Sophy Roberts studierte unter anderem in Oxford und an der Columbia University, New York, und arbeitete für Condé Nast Traveller, The Economist und Financial Times Weekend. Sie lebt in West Dorset (GB).

Ich habe das Buch gerade erst angefangen und komme nicht mehr los davon. Roberts hat eine wunderbar poetische Schreibweise, die mich gefangen nimmt. Und bereits anhand der einleitenden Kapitel wurde mir deutlich, wie sehr auch mein persönliches Bild von Sibirien geprägt ist durch Berichte, die jeweils nur eine einzige Seite der Wahrnehmung beleuchteten. Roberts zeigt auch ganz andere Wahrnehmungsmöglichkeiten auf, ohne deshalb Partei zu ergreifen oder sentimental zu werden. Und die Idee, nach vergessenen Klavieren in Sibirien zu forschen, finde ich total erfrischend und unkonventionell. Darauf muss man erst einmal kommen! Ich werde das Buch jedenfalls nicht so schnell aus der Hand legen...
Wegen Überfüllung geschlossen
Dieses Thema hat die maximale Länge erreicht und wurde daher automatisch geschlossen.

*geschlossen*


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