Der Weg
Unterwegs bin ich seit meiner Kindheit.
Das Leben fordert mich auf, meinen Weg zu gehen, meinen Weg, Schritt für Schritt.
Ich muss ihn nicht fröhlich und beschwingt gehen, das verlangt niemand von mir – aber ich muss ihn gehen, meinen Weg, nicht den des Nachbarn, der so viel leichter zu gehen wäre, scheinbar – da ist das Leben unerbittlich. Mein Weg, das ist der Weg, den nur ich gehen kann.
Da liegt er voll Geheimnis, voll Verheißung vor mir, hinter mir und immer wieder vor mir. Er lädt mich ein, lockt mich auf eine Spur, die es zu entdecken gilt. Mein Weg ist nicht ein Buch mit sieben Siegeln. Ich muss ihm nicht blind vertrauen.
Der Weg liegt nicht stumm da, er spricht mich an. Er hat seine eigene Sprache. Ich kann sie lesen, lesen lernen. Es gibt zwar Lehrer, aber sie werden mit jedem Schritt entbehrlicher. Umso wichtiger werden Weg-Gefährten, die beim Lesen helfen. Ohne sie tappe ich im Dunkeln.
Ich will ins Gespräch bringen, was ich entziffere, will im Herzen erwägen, was andere aus dem Weg heraushorchen. Die Sprache meines Weges lernen, das geht nicht nur mit Kopf und Herz, sondern ganz zuerst mit meinen Füßen. Mit ihnen bin ich geerdet. Sie spüren zuerst, ob mein Weg hart oder weich, warm oder kalt, einladend oder sperrig, breit oder schmal ist.
Das muss zusammen stimmen, was meine Füße wahrnehmen und was mein Herz fühlt und mein Kopf interpretiert, wenn ich meinen Weg gehe, meinen Weg. Unterwegs sein, das heißt beweglich sein, beweglich bleiben. Ich bewege mich, meinen Körper, Schritt für Schritt. Aber es ist nicht nur der Körper. Auch die Anschauung der Welt ändert sich dabei – unterwegs bin ich ein Lernender.
Was mein Auge sieht, was meine Füße verstehen und die Hände begreifen, was ich mit Weggefährten bespreche – all dies macht meine Weg - Erfahrung aus, hat Konsequenzen im Tun und lassen.
So lernend wage ich das nächste Wegstück.
(aus Bruno Döring, Wurzelkraft, Ein Lesebuch der Achtsamkeit)