Aus dem Leben eines Linksfittichs
Neulich im Schreibwarenladen. Inhabergeführt. Beratung garantiert. Ein zarter Mann, einen halben Kopf kleiner als ich, grauhaarig, auf der Zielgerade zur Rente, sieht aus als könnte er mir helfen.„Gibt es bei Ihnen Füller für Linkshänder?“ Den Satz habe ich vorher tagelang geübt. Ich bin stolz darauf, ihn fehlerfrei – und wie ich finde beiläufig – herausgebracht zu haben.
„Ja, klar. Haben wir. Ist wie mit den Tassen für Linkshänder.“ Sein Grinsen sagt deutlich, „nun klatsch schon. Ich habe einen super Gag gebracht!“
Für eine Millisekunde bin ich sprachlos. Lange genug, um einmal tief Luft zu holen.
„Du Arsch!“, herrsche ich ihn an. „Du arrogantes Rechtshänderarschloch!!!“ Die drei Ausrufezeichen werden von einem tremolierenden Beben meiner Stimmbänder getragen. „Ist dir eigentlich noch nie aufgefallen, dass man die coolen Sprüche auf den Kaffeebechern aus dem Ein-Euro-Laden nur dann lesen kann, wenn man das Teil in die rechte Hand nimmt???“ Die drei Fragezeichen vibrieren eine gefühlte Oktave über den Ausrufezeichen.
Er starrt mich ebenso verständnislos wie dümmlich an, was meine Wut erfolgreich befeuert. Erbarmungslos nutze ich den taktischen Vorteil. Während meine Rechte beiläufig in dem Aufsteller mit den Trauerkarten blättert, ziehen sich meine Augen konzentriert zusammen, mein Mund imitiert ein gewinnendes Lächeln, meine Linke ballt sich und schießt nach vorn. Zielsicher knallt mein linker Haken gegen sein schlecht rasiertes Kinn. Sein Kopf fliegt in den Nacken, er stolpert nach hinten, rudert unkoordiniert mit den Armen und reißt im Fallen den Sonderpostenstapel „Aktenordner 1,99“ und den Tisch mit den Mignons-Radiergummis, -Bleistiften, -Anspitzern, -Linealen und –Schlampern zu Boden. Mein ebenso eisiger wie wild entschlossener Blick jagt seine erschrocken gackernden Kolleginnen zurück hinter den Kassentresen.
Meine Linke schießt erneut vor. Entsetzt reißt er die Augen auf und die Arme hoch. Doch seine Reflexe sind zu langsam für mich. Meine Hand greift ihn am Schlafittchen. Meine Füße verwachsen mit dem Fußboden, ich zerre ihn halb hoch.
„Nun hör mir genau zu, denn ich erkläre es nur einmal!“ Meine Stimme wechselt das Timbre zu Robert de Niro alias Vito Corleone. „Ich war ein Kind, ein sehr kleines Kind. Und ich wollte nur das, was alle Kinder wollen: die Welt entdecken und geliebt werden. Doch was ich lernte war: wer geliebt werden will, muss das schöne Händchen nehmen. Was ich lernte war: so wie ich bin, bin ich falsch. Sie haben mein Gehirn zerbrochen, es gezwungen, sich falsch zu verdrahten. Dann haben sie es gewaschen, damit ich den Vorgang vergaß und dachte, ich sei eben unkoordiniert und niemals gut genug. Fünfzig verfluchte Jahre habe ich mich gemüht, geplagt, gehadert und mit der permanenten Verzweiflung gekämpft. Jetzt stehe ich hier, und alles, was ich will, ist ein Füller für meine linke Hand! Egal, was kommt, ich will endlich Ich sein!“
An diesem Punkt haue ich ihm – der Eindrücklichkeit halber – noch ein paar rechts und links runter. Seine Unterlippe bibbert verdächtig. Aber ich setze noch einen oben drauf.
„Kannst du kleines, ignorantes Ärschchen dir vorstellen, was es bedeutet, ständig von den anderen Kindern gemobbt zu werden, nur weil der Körper mit all dem überfordert ist? Hast du eine Ahnung, was es heißt, ständig am Rande der Erschöpfung durchs Leben zu wanken, ohne dass ein Arzt – ein einziger nur – fähig wäre, den Grund zu verstehen? Und da kommst du, angestellt für fachgerechte Beratung, und faselst Schwachsinn über Kaffeetassen!“
Für einen Moment bedaure ich es, keine Stilettos zu tragen, denn ich würde ihm gerne damit den Hals aufschlitzen. Angewidert lasse ich das wimmernde Männchen fallen.
Während der Film vor meinem inneren Auge abläuft und die Wut von fünfzig Jahren in meinem Bauch lodert, übernimmt mein sozialverträgliches Ich die Kontrolle. Ich lächle. Mühsam, aber doch.
„Überlegen sie doch mal. Wer mit rechts schreibt, zieht die Feder über das Papier. Wer mit links schreibt, schiebt dagegen. Winkel und Druck sind also anders.“
Er schaut mich überrascht an, grübelt etwas und meint, „es wäre dann wohl ganz gut, wenn die Feder tendenziell länger wäre.“
Ich schaue ihn erwartungsvoll an.
Er fragt, „wie alt ist das Kind denn?“
Ich unterdrücke ein Grollen. „Es steht vor ihnen!“
„Äh?“
Woher soll er es wissen? Aus der hintersten Ecke meines Charakters zerre ich eine weitere Portion Geduld hervor und erkläre, „ich bin eine umdressierte Linkshänderin. Jetzt schule ich mich zurück.“
Er überwindet sein Erstaunen überraschend schnell. „Ach, das ist ja spannend. Wollen sie den hier mal probieren?“ Er hält mir ein schwarzes Modell entgegen.
Ich bin urplötzlich überfordert. Aber es ist eindeutig zu spät für Genierlichkeiten. Zögerlich nehme ich den Füller in die Hand. Er fühlt sich gut an, besser als der Bleistift, mit dem ich bisher geübt habe. Ich weiß nicht, was ich schreiben soll, so vor einem Zuschauer. Also schreibe ich meinen Namen. Es sieht krakelig aus und auf eine fremde Art vertraut. Ich nehme den Füller und eine Packung Patronen dazu.
Ich habe es getan. Ich habe laut gesagt, wer ich bin. Ich bin ein Linksfittich. Und das ist gut so.
© Sylvie2day, April 2018
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