2018, 3. Advent
Es ist Zeit, die dritte Kerze anzuzünden und sich daran zu erinnern, dass es keinen Grund für Stress gibt.Die Protagonistin der heutigen Geschichte (geschrieben 2012) hat ihre eigene Sicht auf die Welt und beschließt auszusteigen. Und wer hat das nicht schon einmal selbst erlebt? Man erkennt, dass es nicht so bleiben kann wie es ist, dass man es nicht ändern kann und darum die Situation verlassen muss, egal was danach kommt.
Liebe Grüße
Sylvie
Alles Bio
„Du meinst, echt...?“
„Ja. Ich habe es von Elvira gehört und die hat es von Hanne.“
„Das glaube ich nicht!“
„Doch, ganz sicher. Er ist nicht nur nett. Es gibt Tage, an denen er ausrastet.“
„Was heißt das denn?“
„Dass er Amok läuft. Er geht durch die Gegend und greift sich wahllos seine Opfer!“
„Wirklich wahllos?“
„Ja. Niemand ist vor ihm sicher. Und keiner ist da, der einem hilft, wenn es einen erwischt.“
„Das glaube ich nicht. Er sagt immer so nette Sachen, wenn er das Essen und die Getränke serviert, kennt jeden beim Namen. Der macht so was nicht!“
Suse wandte sich entrüstet ab und ging davon. Babsi und ihre Schwarzseherei. Das war doch alles Blödsinn. Sie suchte sich einen ruhigen Platz, setzte sich und ließ sich die lauwarmen Sonnenstrahlen ins Gesicht fallen. Doch es blieb nicht ruhig. Babsi folgte ihr und ließ sich neben sie plumpsen.
„Du bist wirklich eine dumme Gans“, zischte sie. „Halt doch die Augen offen! Siehst du das Tor da drüben? Wer da hindurchgeht, kommt niemals zurück. Er ist viel zu schlau, einem vor Zeugen den Hals umzudrehen. Aber dahinter....“
„Nun hör aber auf!“, fauchte Suse. „Wenn das wahr wäre, wäre hier doch alles entvölkert. Aber es herrscht Hochbetrieb wie immer.“
Hinter ihr erscholl ein heiseres Gackern. „Kindchen, du bist naiv!“
Suse sah das Alter ihres Gegenübers und unwillkürlich erhob sie sich. „Wer bist du?“, fragte sie höflich.
„Ich bin Marga. Und ich habe mehr von der Welt gesehen als ihr. Letztes Jahr bin ich ihm mit knapper Not entkommen. Und soll ich euch was sagen: ich wünschte, es wäre nicht passiert.“
„Wieso?“, fragte Babsi vorlaut.
„Ich lebe noch, aber er hat mich zur Prostitution gezwungen.“ Angewidert schüttelte sie den Kopf.
„Das ist ja furchtbar!“, hauchte Suse erschreckt. „Du hast wirklich gesehen, ich meine, wie er sie umgebracht hat?“
„Aber ja. Und es scheint nur phasenweise so zu sein. Ich habe ihn beobachtet. Die meiste Zeit ist er friedlich. Es ist die Frau. Sie stachelt ihn auf und befiehlt ihm, es zu tun. Und er mordet exakt so viele Opfer, wie sie ihm sagt. Es ist jetzt ein knappes Jahr her, da waren es sechzig an einem Tag!“
„Wenn das so ist, gehe ich fort von hier!“, sagte Suse.
„Wo willst du denn hin?“, fragte die Alte. „Du kennst die Welt nicht. Ich kenne keinen, der das geschafft hat.“ Sie verstummte abrupt, denn grelles Licht blendete sie. Aufgeregt schreckten sie hoch. Auch ihre Umgebung war in Unruhe geraten.
„Wir brauchen mehr Licht auf die Schleuse“, brüllte ein Mann mit einer umgekehrt aufgesetzten Baseballkappe. „Hurtig, bevor die verfickte Sonne untergeht. Kamera Eins auf die Schleuse. Kamera Zwei auf das Interview. Kamera Drei dahinten auf den kleinen Hügel und die Totale einfangen. Und sieh zu, dass du den verfickten Weihnachtsbaum drauf kriegst. Los Leute, sehen wir zu, dass wir das hier hinter uns bringen. Es muss noch geschnitten werden. Die verfickten Kollegen von Neunzehn Dreißig warten nicht auf uns!“
Hektisches Getrappel setzte ein. Eine junge Frau mit kurzem Rock und umso längeren Fingernägeln haschte eilig nach Tiegeln und Töpfen und begann, einen anderen Mann abzupudern. Suse und Babsi sahen gebannt zu. Marga machte sich von dannen und suchte sich eine abgelegene Stelle, um den Treiben aus sicherer Entfernung zuzusehen.
„Was muss ich denn machen?“, fragte Hansen nervös.
„Sie bleiben einfach hier stehen“, sagte der Moderator. „Ich stelle ihnen die Fragen, die wir eben besprochen haben. Und sie antworten. Vergessen sie die Kamera und schauen sie einfach auf mich. Wir gehen nicht live auf Sendung. Es macht also nichts, wenn wir eine Passage wiederholen müssen.“ Er drehte sich um. „Sind alle auf Position?“ Alle nickten eilig. Es war verdammt kalt hier.
„Guten Abend, meine Damen und Herren. Wir sind heute auf dem Biohof des Landwirt Hansen bei Hanselünne. Herr Hansen, sie betreiben einen EU-zertifizierten Biohof. Was genau unterscheidet ihre Tierhaltung vor der konventioneller Betriebe?“
„Nun ja“, Hansen lief rot an unter dem Puder. „Die Gänse haben deutlich mehr Platz, die Fläche ist überdacht, von wegen der Vogelgrippe. Sie haben immer Zugang zu Wasser und Futter. Wir schlachten nur nach Bestellung, so dass der Kunde immer frische Ware bekommt. Und ich hatte die Idee mit der Schleuse. Wir lotsen die nötige Anzahl der Tiere mit Futter hindurch. Das ist deutlich stressfreier für die Tiere als die herkömmliche Art.“
„Ich hörte, ihre Tiere haben alle Namen?“, fragte der Moderator weiter.
„Ja. Gänse sind sehr intelligente Tiere. Sie reagieren auf Ansprache. Und ich gleiche die Gesamtzahl so lange wie möglich mit anderen Tieren aus den Außengehegen aus. So lange sie das Gefühl haben, dass ihre Gruppe intakt ist, sind sie sehr gelassen. Das hier sind die letzten, denn morgen ist der Vierundzwanzigste. Wir haben vierzig Bestellungen und zwanzig weitere gehen in den Hofladen. Der ist bis vierzehn Uhr geöffnet. Zwanzig weitere behalte ich für die Nachzucht.“
„Können wir das Verfahren sehen.“
„Aber natürlich.“
Hansen stieg, wie der Regisseur es gesagt hatte, in das Gehege und legte mit dem Futter eine Spur zu Schleuse. Plötzlich hackte ein Schnabel tief in seine Hand. Dann flatterte Suse empört davon. Ihr fehlten einige Federn, darum hing sie schief in der Luft. Aber sie schaffte es über den Zaun, kam herunter und watschelte zufrieden schnatternd über die Wiese zum Waldrand. Triumphierend sah sie von dort zurück. Von hinten schlich sich der Fuchs an und schlug seine Zähne in ihren weißen Hals.