Barrieren
Nachdem @********elin mich so nett per PN gebeten hat, meine Gedanken zu den Barrieren zu äußern, tue ich das natürlich.Nur so zur Erinnerung: als Mensch, dem Rechtshändigkeit aufgezwungen wurde, verorte ich mich am Rand des neurodiversen Spektrums. Durch die so erzeugten Umleitungen im Gehirn kenne ich das Phänomen der Wahrnehmungsverzögerung. Im Ergebnis bin ich graoßaertig im freien Assoziieren, weil ich zwischendurch immer wieder den Faden verliere und mit irgendwas anknüpfe, was dann wieder im Bewusstsein auftaucht. Stringentes Abarbeiten von Projekten ist wie Perlen auffädeln, nur dass ich, wenn ich unterbrochen werde, wieder bei 1 anfange gegenzuchecken, ob auch alles richtig ist.
Auch die sozialen Bewältigungsstrategien der familiären Dauerbotschaft (aka "malgine Introjekte") "so wie du bist, bist du falsch" tragen durchaus autistische Züge, angefangen vom Lernen, was denn nun richtig ist, bis zum Perfektionismus, damit ich endlich geliebt werde. Inkusive Versinken in Spezialinteressen, wenn das Außen zu viel wird.
Der Unterschied ist: das ist menschengemacht, nicht naturgegeben, und durch meine Rückschulung auf links habe ich nicht nur stabile neuronale Bahnen geschaffen, die meiner Natur entsprechen und die die Wahrnehmungsverzögerung auf wenige Ausnahmesituationen reduzieren. Ich habe während des Rückschulungsprozesses sehr viel über mich gelernt, verstanden, warum ich manches Verhalten an den Tag lege - und angefangen, es Schritt für Schritt zu ändern.
Insofern kann ich hier eher retrospektiv etwas beitragen, quasi über "frühere Barrieren" schreiben.
z.B. der Pünktlichkeitsfimmel: weil immer alles länger dauert, baue ich überall Zeitpuffer ein, um ja nicht zu spät zu sein (s. Perfektionismus). Mit dem Ergebnis, dass ich in 99 von 100 Fällen viel zu früh bin. Das hat sich dermaßen verselbstständigt, dass ich das immer noch mache. Der Unterschied zu früher: ich nehme das Verhalten meines Gegenübers nicht mehr persönlich. Ich habe begriffen, dass der andere nicht unpünktlich ist, um mich zu ärgern. Es ist einfach bei ihm so verankert. Metaphorisch beschrieben: ich habe aufgehört, Äpfel von einem Birnbaum zu erwarten.
Die Frage ist: wie gehe ich mit einem chronisch unpünktlichen Menschen um?
Kommt ganz auf den Menschen an
Meine beste Freundin kann pünktlich, wenn es um was geht: also z.B. wenn sie mich zu einem Termin fahren soll, weil ich gerade gehandikapt bin und nicht selbst ans Steuer kann. Sie kann aber auch prima unpünktlich, wenn sie etwas zugesagt hat, was sie eigentlich nicht machen will. Falls dieses "etwas" nun etwas ist, das uns Beiden am Ende nützt, bestelle ich sie einfach 15 Minuten vor der Zeit, dann ist sie pünktlich. Ich weiß: jetzt folgen 5 Minuten Lemento über "eigentlich", dann können wir losarbeiten.
Mache ich, weil sie meine beste Freundin ist. Mache ich sicher nicht bei einem Joy-Date. Da sage ich vorher klipp und klar: ich warte maximal 15 Minuten, wer dann nicht da ist und sich auch nicht gemeldet und plausibel gemacht hat, warum er sich verspätet, sieht nur noch einen leeren Raum. Das war's dann endgültig. Es gibt nämlich auch Kerle, die nicht mal absagen, wenn sie es sich anders überlegt haben...
Was das Beispiel mit der zu- und dann abgesagten Hilfe angeht. Da kann ich tatsächlich wenig beitragen. Eines der malignen Introjekte lautet nämlich: hilf dir selbst, dann hilft dir Gott. Ich lerne erst jetzt auf meine alten Tage so langsam, um Hilfe zu bitten und die dann auch anzunehmen. Früher habe ich mich abgequält bis zum Geht-nicht-mehr. Da Hilfe für mich nichts Selbstverständliches ist, bin ich nicht nur ausgiebig dankbar, ich lasse mich innerlich auf den Zeitplan des anderen ein, weil er ja schließlich etwas für mich tut.
z.B.: mein heimwerkelnder Nachbar.
Ich: Könntest Du mir eine Lampe andübeln?
Er: Klar, aber ich kann erst nach 4.
Ich: Da bin ich unterwegs. Ich lege alles zurecht und male ein Kreuz an die Stelle, wo sie hin soll. Geh einfach hoch und mach, so wie es dir passt.
Und schon habe ich kein Problem mehr. Und selbst wenn ich um 6 heimkomme und nichts ist passiert, geht meine Welt auch nicht unter.
Allerdings sind die Menschen in meinem Beziehungsnetzwerk alle sehr kommunikativ udn zuverlässig. Ich kann mich an keine Situation erinnern, in der eine zugesagte, nicht geleistete Hilfe mich in den Shutdown geworfen hätte. Den kenne ich eher von "Sylvie muss Behördenpost bearbeiten und ist hoffnungslos überfordert und zudem panisch, was falsch zu machen." Das hat sich aber im Verlauf der letzten Jahre auch erheblich gebessert, weil dank Rückschulung mein Dauer-Fatigue weg ist und ich mich besser konzentrieren kann. Und mein stetig gewachsenes Selbstbewusstsein sorgt auch dafür, dass ich beim Perlen aufreihen nach einer Unterbrechung nicht mehr alles kontrolliere, sondern mich darauf verlasse, dass ich das vorher schon richtig gemacht haben werde. Ich gehe nur noch zurück bis zur vorletzten Perle, um den Einstieg wieder zu finden.
Sylvie