40 Jahre Hite-Report
Heute vor 40 Jahren, am 2. November 1977, erschien im Bertelsmann Verlag die deutsche Ausgabe des im amerikanischen Original so genannten "Hite-Report" unter dem Titel: "Das sexuelle Erleben der Frau", ein Wälzer von fast 600 Seiten. Vier Wochen nach Erscheinen auf dem deutschen Buchmarkt musste bereits die 4. Auflage nachgedruckt werden, trotz des für damalige Verhältnisse stolzen Preises von DM 38.-. Der Hite-Report wurde zum Sex-Weltbestseller der 70er Jahre des 20. Jahrhunderts, der in neun Sprachen übersetzt wurde, darunter auch Hebräisch, Arabisch und Japanisch.
Shere Hite, eine US-amerikanische Intellektuelle mit einem akademischen Doktorgrad der renommierten Columbia University in New York, erzählt in ihrer später veröffentlichten Autobiographie, wie es dazu kam: sie hatte als junge, modelnde Studentin in einem TV-Werbespot den Part eines Schreibmädchens zu spielen: Als "Olivetti Woman" war es ihre Aufgabe, "eine Schreibmaschine vorzustellen, die so smart war, dass die Benützerin leicht etwas dümmlich wirken durfte". Das Mimodram (so bezeichnet sie es) wurde zum Auslöser für ihre eigenständigen Erhebungen und machte sie zum Stargast amerikanischer Talkshows. Denn New Yorker Feministinnen, die gegen den Olivetti-Spot protestierten, überzeugten Shere Hite, dass ihr Werbestreifen typisch sei für die Rolle vieler Frauen in den USA -- einer schweigenden Mehrheit von Sexualobjekten, "deren Gefühle unterdrückt und ausgebeutet werden". Hite begann, sich für die Einstellung ihrer Geschlechtsgenossinnen zum Thema Sexualität zu interessieren, und verschickte 1972 erste Fragebogen, zuerst an ehemalige Mitstudentinnen, dann bat sie diese, die Fragebögen im Schneeballsystem weiter zu verbreiten, und zwar nur an Frauen.
Die Bögen umfassten 57 Fragen, und da einige ihrer Studienkolleginnen über gute Kontakte verfügten, gelang es ihr, insgesamt 100 000 Fragebögen ausschließlich an Frauen zu verbreiten, mit Unterstützung von verschiedenen Organisationen wie NOW (National Organisation of Women), sowie von ganz unterschiedlichen Zeitschriften wie etwa die "Village Voice", das "Brides Magazine" und "Mademoiselle". Sogar einige Kirchenblätter machten bei der Sexualbefragung mit.
Dennoch war sie mit 35 000 $US verschuldet, bis sie schließlich das Ergebnis ihrer Befragung in gedruckter Form vorlegen konnte.
Der gesamte Rücklauf an Fragebögen betrug 3019 und stammte von Frauen zwischen 14 und 78 Jahren.
Grundsätzlich wurde vieles, was Alfred Kinsey, der Begründer der modernen Sexualwissenschaften, bereits 20 Jahre davor erhoben und veröffentlicht hatte, bestätigt.
Aber es gab auch einige Ergebnisse, die damals als überraschend empfunden wurden. So zum Beispiel, dass für viele Frauen der Höhepunkt beim Sex "nicht wichtig" sei, dagegen sei es ihnen unerträglich, dass viele Männer bei sexuellen Begegnungen Zärtlichkeit entweder völlig vermissen ließen, oder ihr nur beiläufig und in 99% der Fälle "viel zu wenig" Platz einräumten. Typisches Beispiel: "Es ist auch so (
d.h.ohne Orgasmus) schön -- wegen der Wärme. Man fühlt sich beschützt und lässt jemanden spüren, dass man ihn mag." Als weiteres Indiz für den tiefsitzenden Wunsch nach Zärtlichkeit erwähnt Shere Hite, daß 87 Prozent der antwortenden Frauen weiterhin die Penetration erwünschen -- aber "vor allem wegen des körperlichen Kontakts und wegen des Zusammengehörigkeitsgefühls". "Manche Männer ficken einen, bis man kommt -- oder tot umfällt", klagte eine Schreiberin über zu wenig Zärtlichkeit.
Die Resultate dieses ersten Hite-Reports widersprachen teilweise den gängigen Moralvorstellungen und Eheidealen jener Zeit. Aufsehen erregten unter anderem ihre Ergebnisse, dass Frauen deutlich häufiger masturbieren und außereheliche sexuelle Kontakte haben als in der Gesellschaft vermutet. Vor allem konservative Kreise in den USA protestierten gegen diese aus ihrer Sicht provozierenden Studien. Hite sah sich zum Teil harschen Beschimpfungen, körperlichen Angriffen und sogar Morddrohungen ausgesetzt.
Sie ließ sich dadurch aber nicht entmutigen und veröffentlichte in den darauf folgenden Jahren weitere Zusammenstellungen, so etwa den (zweiten)
Hite-Report: Das sexuelle Erleben des Mannes (1981)
Frauen und Liebe: Der neue Hite Report (1987)
Keinen Mann um jeden Preis (1992)
Hite-Report: Erotik und Sexualität in der Familie (1994)
Fliegen mit Jupiter (1995)
Wie Frauen Frauen sehen (1997)
Sex & Business (2000)
Vom Stolz, eine Frau zu sein (2003)
1995 verzichtete Hite freiwillig auf ihre US-Staatsbürgerschaft wegen der massiven Anfeindungen, die sie seit dem Erscheinen ihres ersten Reports in den USA zehn Jahre lang ununterbrochen erfahren hatte, und nahm die deutsche Staatsbürgerschaft an, da unter ihren Vorfahren auch Deutsche waren. Ihr Forschungsinstitut "Hite Research International" verlegte sie von New York nach Paris, von dort aus wurden ihre weiteren Projekte konzipiert und die Daten ausgewertet. Privat wohnte sie nacheinander in mehreren europäischen Ländern, einige Jahre auch in Köln. Da sie mehrere europäische Sprachen sehr gut beherrscht, fühlte sie sich an verschiedenen Orten jeweils zu Hause und hatte dort auch Freunde. Heute lebt sie in London.
Shere Hites Autobiographie erschien auf Deutsch unter dem Titel: Report in eigener Sache: mein Leben, Sex und Politik (Originaltitel: Deep in the Forest are the Dancing Deer, the Song of Myself, übersetzt von Xenia Osthelder und Bernd Rullkötter). Lübbe, Bergisch Gladbach 1996. Daraus, sowie aus meiner eigenen Ausgabe der deutschen Version des ersten Hite-Reports, habe ich den überwiegenden Teil der hier dargestellten Inhalte entnommen. Angeregt wurde ich zu diesem
Kalenderblatt durch einen kurzen Hinweis in einer Radiosendung von Bayern 2 heute vormittag. Die Liste der Veröffentlichungen wurde aus Wikipedia entnommen.