Am Abend des 9. Novembers 1989 saß in einem kleinen oberhessischen Dorf hart an der Zonengrenze der Bahnhofsvorsteher mit einem Lokführer vor dem Fernseher, wo der "Mauerfall" in Berlin nonstop live und in Farbe zu sehen war. Und auch diese beiden Bundesbahnbeamten waren angesteckt von dem Fieber, das damals über uns alle lief. "Du - wir fahr'n da jetzt rüber !"
Sie schnappten sich einen dieser uralten roten, knuffig-runden Triebwagen, der irgendwo auf ihren Rangiergleisen rumgammelte, brachten ihn ins laufen und tuckerten durch die Dunkelheit und den Nebel ostwärts über die Strecke, die seit 40 Jahren tot gewesen war. Langsam "auf Sicht" fuhren sie an den Schildern vorbei "Halt! Zonengrenze ! Schußwaffengebrauch!" und im Schrittempo kamen sie dann an dieses Gattertor, das seit fast 40 Jahren verschloßen gewesen war und auch einer dieser finsteren Wachtürme. Sie hupten, warteten. Niemand lies sich blicken, die Grenzer waren verschwunden. Wahrscheinlich saß auch die gesamte Grenztruppe der DDR vor irgendwelchen Fernsehern und starrte auf Berlin.
Unsere Eisenbahner holten tief Luft, gaben Gas und fuhren einfach durch das Tor durch. Nichts passierte. Langsam, ganz langsam tuckerten wie weiter. Es könnten ja Hindernisse aufgebaut sein gegen Fluchtversuche, Schienen demontiert sein - Minen ? Selbstschußanlagen ? Das war schon ziemlich tollkühn gewesen von den zwei da in ihrem alten Dieseltriebwagen. Über eine Stunde brauchten sie, um sich auf den verschlafenen Grenzbahnhof auf DDR-Seite vorzutasten. Auch dort saß der Genosse Bahnhofsvorsteher mit seiner Brigarde vor dem Fernseher und starrte auf Berlin, als es draussen auf dem Gleis zu hupen begann. Ein Zug ? Steht doch keiner mehr auf dem Plan ... ?
"Das darf doch nicht wahr sein ! Die Bundesbahn ist schon hier !"
Reichsbahner und Bundesbahner fielen sich in die Arme, heulten, lachten und entkorkten eine Unmenge von Flaschen, während sich binnen weniger Minuten der ganze Ort am hellerleuchteten Bahnhof versammelte und die wackeren Bundesbahner hochleben lies: hatten sie doch die Mauer in der anderen Richtung zu Fall gebracht, als in Berlin.
Und sie fuhren alsbald wieder zurück - mit den Reichsbahnern und hundert DDR-Bürgern, die dicht an dicht wie Sardinen standen und auch im BRD-Grenzbahnhof, wo sich die verbliebenen Bundesbahner Sorgen gemacht hatten über ihre tollkühnen Kollegen, war alsbald der ganze Ort versammelt ... Und dieser wackere alte rote Triebwagen fuhr dann tagelang pausenlos als "shuttle" hin und her. "Großer Bahnhof" hüben und drüben - Bratwürste, Korn, Bier, Schnaps und Wein, Deutschland einig Vaterland.
Diese anrührende kleine Geschichte von jenem großen Tag stand wenig später im "ZEITmagazin" zu lesen. Ich hab Tränen in den Augen gehabt, damals ...