9/11 ??? Aber da war doch noch was...
Verharren im Raum
(Arvo Pärt zum 85. Geburtstag)
Moderne Musikportale öffnen oft überraschende Horizonte. So offerierte mir kürzlich YouTube nach Arvo Pärts "Spiegel im Spiegel" für Violine und Klavier den ersten Satz "Pagode" aus Claude Debussys Klaviersuite "Estampes". Der Algorithmus ist ein Schelm: Zwischen Debussys Anklängen an die indonesische Gamelan-Musik und Pärts selbst entwickeltem Tintinnabuli-Stil mit seinen gebrochenen Dreiklängen gibt es eine Verbindung. Und zwar auf einer sehr meditativen Ebene des Empfindens. Bildlich ließe sich das etwa so fassen: Die Musik eröffnet einen Raum und weitet diesen - aber sie verlässt ihn nicht. Klang und Raum verschmelzen.
Bevor hier jetzt Missverständnisse entstehen: Es gibt mehr Trennendes als Verbindendes in der Musik der beiden Komponisten, deren Geburtsjahre gut sieben Jahrzehnte auseinander liegen. Claude Debussy ist kein Minimalist und Arvo Pärt kein Impressionist. Aber beide können mit ihrer Musik mystische Erfahrungen beschreiben.
Im Falle des Esten Pärt, der mittlerweile die österreichische Staatsbürgerschaft hat, entspringt die Mystik einer tief empfundenen Religiosität. Sie ist im Grunde der Schlüssel zu seinem Schaffen. Sie lässt verstehen, warum der in jungen Jahren von Schostakowitsch und Schönberg beeinflusste Pärt in der damaligen Sowjetunion mit seiner Musik auf harsche Ablehnung stieß, nachdem er, 35-jährig, 1970 der russisch-orthodoxen Kirche beigetreten war. Pärts Verharren im Raum widersprach sozialistischem Vorwärts-Denken.
Es widerspricht im Grunde auch vielem, was die musikalische Avantgarde der Nachkriegszeit propagierte. Und ist vielleicht gerade deshalb so populär in der westlichen Welt.
Trotz deren säkularer Haltung - kein Widerspruch: Arvo Pärts Werke sind Inseln auf dem stürmischen, grausamen Ozean der Moderne und sie wirken gerade in ihrer Ruhe und (scheinbaren) Einfachheit wie ein Rettungsanker. Seine Haltung und sein Werk haben für mich jedoch etwas Zeitloses.
Heute, am 11. September 2020, wird Pärt 85 - nicht mehr als ein Aperçu für Chronist*en.
Oder ein Kalenderblatt für Bad Weisheit.