Für diese Hochnäsigkeit glaube ich, eine Erklärung anbieten zu können. Dieser Dünkel beruht vielleicht zu einem Gutteil auf dem "Triebverzicht", den die Besucher klassischer Aufführungen voll ernster Freude auf sich nehmen: eingeschnürt in jene "festliche Abendkleidung", die mich stets an die Korrektionsanzüge erinnert, mit denen man im späten 19. Jahrhundert die Jugend von der Mastrubation abhalten wollte, zwängt man sich in Sitze, gegen die Ryan Air und Leipziger Verkehrsbetriebe der schiere Luxus an Ergonomie und Behaglichkeit sein werden. Bewegungslos hat man zu harren, nicht einmal Beifall zwischen den Sätzen ist erlaubt - erst ganz am Ende. Und das gilt auch und gerade bei solch fetzigen Rhythmen wie denen von Rameau. Der "Kunstgenuß" wird vollends äthiolisiert, aufgelöst in ein kognitives Abstraktum "jenseits des Lustprinzips". Triebverzicht zu Gunsten höherer Werte - das ist das Credo der Moderne, ausformuliert in Norbert Elias' "Der Prozeß der Zivilisation". Die Loslösung vom Trieb, der immer weitergehende Triebverzicht sei die Wurzel von Fortschritt und Zivlisation, an der Askese würde dereinst die Welt genesen. Tiefenpsychologisch steckt dahinter das Schuldgefühl aus dem Ödipus-Konflikt, das uns immer wieder zu Bußübungen, Verzichten, "großen Opfern und gewaltigen Anstrengungen" motiviert.
Der Opern- und Konzertbesucher in seiner festlichen Robe, die ich ohne zu Zögern unter "bondage" subsumiere, hat also allen Grund zum Dünkel zivilisiatorischer Erhabenheit über jene Wilden, die sich bei ihrer Negermusik "wie die Tiere" benehmen: hopsen, zappeln, gröhlen, johlen, saufen, fressen, kiffen, rauchen, sich "anfassen", umarmen und "mehr". Er kann es getrost als Musikbuchanekdote abtun, daß bei einer Konzertveranstaltung Haydns in London niemand zu Schaden kam, als der riesen Kronleuchter von der Decke fiel und im Parkett zerplatzte, weil keiner mehr saß, alle sich vorne drängten, johlten, gröhlten ... Atmosphäre wie bei einem Rockkonzert. In vormodernen Zeiten hielt man eben wenig von Triebverzicht.
Daß Rameaus Rondo so fetzt, so unter die Haut geht, liegt eben auch daran, daß er eben die Musik der Indianer aufnahm und "verarbeitete" - den beat der Trommel, den Gesang und den Tanz am Lagerfeuer (in der szenischen Fassung deutlich zu erkennen: die Trommlerin ganz links, das Lagerfeuer im Hintergrund). Zu Rameaus Zeiten waren halbnackte Indianer hype. Sie wurden an den Fürstenhöfen herumgereicht, wie heute auf Klimaschutzkonferenzen. Die englische und die französische Krone führten einen 100-jährigen Krieg um Nordamerika, Indianerstämme waren Verbündete beider Seiten und der "edle Wilde" findet sich ja schließlich sogar noch bei Rousseau - der gute Rameau war ihm 1/2 Jahrhundert vorausgewesen.
Und deswegen höre ich Rameau lieber bei youtobe, als im Konzertsaal- da kann ich wenigstens nackig "wie die Wilden" mittanzen und sogar wichsen dabei. Dem festlich gekleideten Konzertbesucher verbleibt indessen nur: