Tere! Labdien! Labas!
Aš moku kalbeti... Ma oskan räägida... Es varu runat... - einigermaßen in allen drei baltischen Sprachen.
Ich war jung, wollte die Welt verändern, und Sekundenkleber war zu teuer.
Nach der Bundeswehr Informatik und Energiewirtschaft studiert... was lag da näher als Windenergie?
Auf der Hannover Messe mit Studentenrabatt war ein Stand: "Lettland" - spannend!
(Trug-)Bilder in meinem Kopf zeigten Sowjet-Plattenbauten, verfallene Burgen in Ventspils usw.
Schnell buchte ich einen der in Osteuropa so beliebten Fernbusse: Duisburg - Tallinn in 40 Stunden.
Fliegen war damals teuer. Überhaupt: Wenn man kein Geld hat, ist alles teuer.
Im Winterquartier des lettischen Zirkus gab es ein Bett für 15 Deutsche Mark die Nacht. Das war... na, reden wir nicht drüber! Damals war schäbig oder Luxus angesagt. Dazwischen nichts.
Morgens in Riga stand ich frisch gekämmt vor dem Quartier, im Dreiteiler und Doppel-Windsor, um dem Minister die gute Nachricht mitzuteilen: Ich war nun hier - alles wird gut! Wir bauen einen Windpark. D.h. ich. Als Sohn einer Beamtenfamilie, mittlerer Dienst, hat man sowas ja schon mal gehört.
Da ich merkte, dass mein BaFög nicht ausreichte, um überhaupt die Gutachten zu bezahlen, zog ich herum mit Klingelbeutel: Deutsche Banken (die alle vertreten waren), Europäische Kommission, UNO.
Bei letzterer hatte ich Glück: Sie flogen einen Fachmann ein aus Helsinki, der gleich ein "baltisches Windenergieprojekt" beginnen wollte und begeistert war von meinem Steckenpferd und meiner Freude daran.
An einer Fußgängerampel beim Rigaer Freiheitsdenkmal sinnierte er, ob ich nicht Windenergieberater sein könnte... für, sagen wir... 450 Dollar?
Ich hatte mein Geld fast aufgebraucht und zählte die Tage, bis ich den Bus zurück ins mondäne Duisburg nehmen müsste. 450 Dollar im Monat waren viel Geld - selbst in Riga, sofern man zwischen wilden Tieren wohnt.
Bevor die Ampel auf grün wechselte, sagte ich zu.
Es waren 450 Dollar. Pro Tag. Die folgenden Monate war ich beschäftigt in der Welt, aber auch im Baltikum, wo ich Teams zusammenstellte und Windmessungen begann - schöner kann man Länder kaum kennenlernen, als die gesamten Küstenregionen und viele andere Gebiete sowieso zu besuchen, abzustreifen nach Standorten, mit den Menschen reden, mit Ministern in der Hauptstadt, Studenten und Professoren in Universitäten, dem Bischof (die Kirche als Landeigentümer - überrascht das wen?), mit Bauern, die heimlich Schnaps brennen. Einer sprach preussischen Dialekt - er war nach dem Krieg geblieben und hatte eine Litauerin geheiratet.
Ich fand Liebe. Hatte zwei schöne Beziehungen.
Irgendwann waren die Windkraftanlagen gebaut (die UNO zahlte gut, und ich trug alles zur Bank und blieb bescheiden, um Land zu pachten und Gutachten zu finanzieren; wenn ich nicht mit Diplomatenkennzeichen chauffiert wurde - einmal ließ der Fahrer die Standarten mit UN-Logo in den Kotflügeln! - nahm ich die Fernbusse). Ein Oligarch finanzierte die Großwindkraftanlagen in Estland. So lernte ich auch gleich russische Geschäftspraktiken kennen. Zahlen immer, wenn der andere dir sonst... hab's gelernt, aber nicht verinnerlicht.
Irgendwann waren da noch Startup-Firmen, und der estnische Staat hat sich beteiligt...
Der estnische Präsident hielt eine Rede, begann damit, was ihn in Estland stolz mache - und dann nannte er zuerst den Namen meines Startups - und ich war nicht da! Mist. Zu viel unterwegs in der Welt. Die baltischen Länder sind so klein, dass du dich wegen Kleinkram beim Minister ausheulst. Der SPIEGEL war erstaunt, als ein estnischer Premierminister die Reporter fragte, was sie trinken wollten - und sich dann mit Tablett in die Schlange im Café anstellte. Freilich nach dem 2008er Crash. Da war Bescheidenheit Trumpf.
Ich wohnte damals in Tallinn, und heute ist meine "Familie" dort.
Eine eigene habe ich nicht. Zurück in Krefeld. 15 Minuten vom Terminal des Flughafens in Düsseldorf.
Bald fliege ich wieder hin, nach Estland. Geschäftlich. Und um meine Freunde zu sehen, die klüger waren als ich: Verheiratet mit Kind.
Auch meine Ziehtochter heiratet bald. 2 Jahre alt... stand sie auf dem Tallinner Fernbusbahnhof. Ich hatte Angst, sie würde die viel zu große Semmel aus der kleinen Hand verlieren und weinen, weil diese in eine Pfütze fiele. Unsere erste Begegnung: Ich hatte plötzlich eine Tochter! ...und jetzt ist die Kleine erwachsen, Architektin, heiratet einen Architekten in Tartu. Klüger als ich.
Meine Lieben kommen alle zu Weihnachten nach Krefeld und bringen "Glögg" und "Vana Tallinn" - danach geht's für mich nach Tallinn:
Der schönste Weihnachtsmarkt Europas geht bis 7. Januar (wegen des julianischen Kalenders der Orthodoxen Kirche).
So viel zu meinem Bezug zum Baltikum.
Es hat sich viel getan. Früher... die Bomben, Schießereien mit Maschinenpistolen (jemand hat einen Kredit, ein "Gentlemen agreement", um ein Kaufhaus oder einen Fitness-Club zu bauen, nicht bedient)... die kaputten Viertel... der Balkon, der nach 90 Jahren nachts in Riga vor mir auf den Bürgersteig krachte... die Windkraftanlagen in Litauen, die jemand ohne Netzanschluss baute (sagte ich "Gentlemen agreement"?)... sind wieder weg.
Heute die modernen Glasfassaden, die restaurierten Altstädte: Das mittelalterliche Tallinn, das klassizistische Tartu, der Jugendstil in Riga (wo Filme gedreht werden, die in Wien spielen), das barocke Vilnius... das mondäne Palanga... die U-Bootfestung Liepaja mit dem Tum zum Abmelden (wenn man mit dem Auto aus der Stadt fuhr; man musste sein Fahrziel und die Ankunftszeit melden).
In Vilnius kann man noch einen Hauch dieser guten alten Zeiten atmen, die viele sich ja zurückwünschen (gerade in Moskau); dort steht unverändert die Zentrale des KBG - inklusive Kerkerzellen mit Podest zum Stehen, umgeben von Wasserbecken. Ein Museum.
Die baltischen Staaten waren schon Republiken mit Verfassungen, bevor Deutschland es war; trotzdem nehmen wir sie oft als Teil der Sowjetunion wahr, und von "Eingliederung" ist zu hören, wo in Wahrheit blutige Kämpfe waren.