Unterwürfig
Manchmal verlassen virtuelle Rehe das Unterholz und folgen monatelang einer Fährte, was in der Natur wohl keinen Sinn ergeben würde. Aber was ist schon Sinn und was ist die Natur?Es war ihr Wunsch, mich zu treffen. Noch ist alles gut, wir sitzen in einem Charlottenburger Straßencafe und plaudern. Ich unterdrücke seit gut einer halben Stunde alle lüsternen Gedanken. Trotzdem taxiere ich sie, kann das gar nicht verhindern. Ihr Haar, ihre Lippen, wie sie das Glas mit dem Latte Macchiato umfasst, das leichte Zittern in der Stimme, ich nehme es bewusst wahr und ich rieche in Nuancen ihren Geruch und ein Deo, weil eine unmerkliche Windbewegung es zu mir trägt. Ihre graublauen Augen leuchten geweitet, sie sind jetzt schon um Fassung bemüht, obwohl ich nur ich bin und nichts Verräterisches über meine Lippen gekommen ist. Trotzdem hat es bei ihr längst angefangen, nur kann sie nicht wissen, wie sie mich ebenso triggert. Ich schätze, im Moment weiß sie gar nichts mehr.
Ihre Sehnsucht macht sie dumm und lässt sie, sicher nicht zum ersten Mal, die Anfänge einer Agonie herbeiwünschen, die wie ein verbotenes, abgedunkeltes Zimmer ist, dessen Türen sie von innen nicht öffnen kann und auch nicht öffnen will, weil sich mit ihr darin ein Mann befindet, der sie durch alle Hautschichten hindurch erkennt und ihre Unterwürfigkeit auf unerklärliche Weise versteht. Ihre Sehnsucht, kalt und heimatlich vertraut zugleich, bewirkt einen Sog, der sie unaufhaltsam mitreißt.
Bald entscheidet mein dämonischer Anteil, wo es hingehen soll. Immer wenn er Blut geleckt hat, tut er das. Er konstruiert Bilder von ihrer Entkleidung und wie sie nackt im Doggy vor mir hockt, meinen Gürtel um den Hals hat und zu einem schönen, hellhäutigen Tier wird, das sich wie Beute fühlt, auf die wirklich nur jemand wie ich aus ist. Der Duktus meiner Gedanken färbt sich um, meine Lust am Smalltalk endet hier. Ich bin kein böser Mensch, ich bin aber auch nicht gut.
Nach einer kleinen wortlosen Pause beginne ich, mit leiser Stimme zu reden. Ich eröffne ihr, dass wir in ein Stundenhotel fahren werden und dass ich sie nackt sehen will, in jedem Fall ficken und mit meinem Gürtel schlagen werde, vielleicht auch ein bisschen fesseln. Es wird nichts Liebevolles passieren, das verspreche ich ihr. Ich warte nicht auf eine Antwort, ich bezahle und schenke ihr für einen Moment keine Beachtung. Sie bleibt regungslos und starrt mich an, dann reiche ich ihr meine Hand. Sie nimmt sie, sie kann nicht anders. Die Agonie ist süß, sie ist eine Sucht.
m.brody
2024