„Nicht den anderen aufgeben. (Ausser natürlich man hat bei der Wahl wirklich so was die Brille aufgehabt)
Ich weiß, Du beziehst Dich nicht direkt auf mich, aber ich möchte schon auf das Thema Partnerwahl eingehen. In Deutschland haben wir aktuell eine Scheidungsrate von ca. 35%. Heißt das, dass 35% aller Menschen die heiraten "wirklich so was die Brille aufgehabt" haben? Das glaube ich tatsächlich nicht. Ich glaube zwar, dass sich viele Leute vor der Eheschließung nicht wirklich gut kannten und sich dann innerhalb der ersten 5-9 Jahre scheiden lassen. Das ist die Hauptgruppe. Viel relevanter sind aber für mich die Personen, die sich nach der Standardehedauer von 14 Jahren scheiden lassen. Denn wenn man so lange mit einem Partner zusammen bleibt, dann nicht weil man sich in der Partnerwahl grundsätzlich vertan hat.
Ich bin mit meiner Frau jetzt über 25Jahre zusammen und 19Jahre verheiratet. Wir wären nicht noch zusammen, wenn wir uns bei der Partnewahl damals grundsätzlich getäuscht hätten. Wir haben viele gemeinsame Interessen und Werte, die wir damals teilten und auch durchaus noch heute teilen. Nachdem wir uns vor unserer Partnerschaft schon kannten, dann über 6 Jahre zusammen waren, 2 Jahre zusammen lebten und dann erst heirateten, hatten wir beide sicherlich nicht mehr unsere love goggles an, sondern kannten uns schon sehr gut.
„Die Frage ist, wieso und warum ändern sie ihre Partnerschaften nicht mit. Manchmal aber doch?
Mit dem Eingehen einer Beziehung ändern sich Menschen schon mal grundsätzlich (langsam). Denn sie bewegen sich aufeinander zu, in dem was sie tun, denken, miteinander unternehmen. Nicht immer, aber wohl sehr oft. [ ... ] Und daher könnte man sich ja dann in Sachen Sex eigentlich auch aufeinander zubewegen.
Das tut man sicherlich auch, nicht immer, aber wohl sehr oft
Aber Sex ist ja nur ein Aspekt. Du könntest auch sagen, dass sie sich in anderen Bereichen aufeinander zubewegen, z.B. Religion. Aber auch hier sieht man Paare durchaus auseinander driften. Bei Sex kommt noch dazu, dass, zumindest bei den meisten verheirateten Paaren, das Thema Fortpflanzung durchaus eine größere Rolle spielt. Jetzt sind Kinder eine tolle Bereicherung, können aber auch extrem die Ehe oder zumindest das Sexualleben negativ beeinträchtigen. Bring dann noch anstrengende Berufe ins Spiel und schon ist ein erfülltes Sexualleben auf einmal deutlich weniger relevant als etwas Schlaf
„Aber vielleicht hat meine Frage einen anderen Hintergrund: Ist euch schon mal aufgefallen, dass dieses sexuelle Auseinanderbewegen oft dann passiert, wenn das Nachwuchsthema abgeschlossen ist und die Kinder älter werden.
Ein Punkt ist sicher, was ich oben ansprach - einfach mehr Zeit für sich und für den Partner vorhanden. Und Sexualität ist sicherlich nicht das einzige Thema bei dem es in dieser Zeit ein Auseinanderbewegen gibt. Ich kenne auch ein Paar, die, sieht man sie zusammen, ein Herz und eine Seele sind. Tatsächlich haben sich aber in den letzten Jahren bei beiden sehr starke unterschiedliche Interessen herausgebildet. Er geht (bzw. ging vor Covid) viel auf Theateraufführungen und Konzerte, sie hat sich zum Aikido Dan hochgekämpft. Beide verbringen sehr viel Zeit mit ihren Hobbies und damit getrennt von einander. Sie verbringen aber auch gemeinsame Zeit und reisen viel zusammen.
Ich glaube persönlich, dass das Ganze überhaupt nichts mit Kindern zu tun hat (denn ich bin auch mit einigen kinderlosen Paaren, sowohl cis und queere, befreundet). Meine These ist, dass sich mit zunehmenden Alter immer mehr das eigne "Selbst" an die Oberfläche kommt. Dass die äußere Sozialisation sich etwas abschleift und man generell mehr um sich selbst kreist. Meine Beobachtung ist, dass sich die persönlichen Charakterzüge stärker ausprägen. Das tun sie aber auch nicht gleichmäßig, sondern einige bekommen höheres Gewicht als andere. Und dabei kommt es dann auch zu Verlagerungen der Gewichtung der eigenen Werte, Wünsche und Moralvorstellungen. D.h. es ändert sich nicht der Mensch selbst, sondern manche Eigenschaften werden (u.U. sehr viel) stärker, andere werden (u.U. sehr viel) schwächer. Dieser Prozess findet überwiegend unbewusst statt. Ich stelle das bei allen meinen Freunden, sehr stark bei meinen Eltern (die ich einfach sehr gut kenne) und natürlich auch bei mir fest und bin überzeugt von dieser These.
Zusätzlich kommt noch ein zweiter, viel bewussterer Faktor dazu. Ich denke, dass man auch selbst aktiv in der Lebensmitte ein Resümee zieht. Was hat man erreicht, was will man noch machen, wie zufrieden ist man mit der aktuellen Situation? Das kann einfach durch runde Geburtstage ausgelöst werden, durch Krankheiten, Sterbefällen im Verwandten- und Bekanntenkreis, aber auch bei einigen durch die Veränderungen die die Pandemie brachte. Und dann stellt man vielleicht fest, dass so viel "fitte" Lebenszeit gar nicht mehr zur Verfügung steht, dass man unbedingt noch Sachen probieren / erleben möchte. Das führt dann zu einer bewussten Verschiebung der Gewichtung der eigenen Werte, Wünsche und Moralvorstellungen.
Führe jetzt die beiden Punkte zusammen und wende sie auf ein Paar an. Im besten Fall entwickeln sich komplementäre Eigenschaften stärker heraus und ein Lebensrückblick ergibt ein gleiches Zukunftsmodel. Wahrscheinlicher ist aber dass sich in einigen Gebieten die Beziehung auseinander entwickelt und das kann eben auch die Sexualität sein.