Elly: Amarone
Elly schaute mich mit einer Mischung aus Erstaunen und Ungläubigkeit an, und ich glaube, sie verdächtigte den stolzen Alkoholgehalt des Amarone als Ursache für das, was ich gerade vorgeschlagen hatte.War das noch der Dom G., den sie gekannt kannte? Der Mann, der immer sagte, ein Leben mit ihm sei ein Leben allein? Der Unberechenbare, mit dem sie so viele geheimnisvolle und im Nachhinein unwahrscheinliche Erlebnisse geteilt hatte? Wenn sie ihren Freundinnen davon erzählte, hielten es alle für wilde Fantasien, fern jeglicher Realität. Niemand glaubte ihr, und insgeheim genoss sie diese Tatsache. Noch nicht mal ihr Mann, von dem sie inzwischen getrennt lebte, nahm Elly deswegen für voll. Nun war sie es, die jemanden nicht mehr für voll nahm: Ihren ehemaligen Dom.
Was war passiert?
„Weisst Du“, fuhr ich fort, „irgendwann kommt der Punkt, an dem man aufhört, einfach nur die Möglichkeiten zu nutzen, die sich einem bieten.“
Verwirrt antwortete Elly: „Ich hoffe, ich war nicht nur eine Möglichkeit?“
Ich lächelte, obwohl ich eigentlich hätte wütend sein müssen. Wie konnte sie so etwas denken, nach all den bücherfüllenden Geschehnissen, die uns so geprägt hatten? Hatte die Zeit, in der es das „wir“ nicht mehr gegeben hatte, ihre Erinnerung so getrübt? Oder war die jetzige Situation, das Wiedersehen nach Jahren trotz dieses neutralen Ortes – ein Restaurant ohne Bezug zu unserer Geschichte – einfach zu viel für sie?
„Es gab keine Frau, deren ganzen Körper ich so auf meiner Zunge haben wollte wie Dich.“
Elly errötete.
„Es gibt keinen Grund, Deine Gesichtsfarbe zu verändern. Das weisst Du ganz genau. Als ich Dich nach der Episode mit der Feuerwehr zu Deinem Mann geschickt habe, damit die Heimlichkeiten aufhören, habe ich es aus Liebe getan. Liebe zu Dir und zu mir. Und ja, ich wusste, dass es das Ende für bedeuten würde. Aber was sind diese Momente wert, diese Inseln des Glücks, wenn sie nur kleine, trockene Orte in einem fernen und ständig aufbrausenden Meer sind, nicht einmal ein ganzer Kontinent? Wir wären daran zerbrochen.“
„Aber Du wusstest, dass Du ohne sie jämmerlich ersaufen würdest, in den Weiten unendlicher Belanglosigkeit und Tristesse.“ antwortete Elly. Ich nickte.
„Warum denn, mein Herr vergangener Zeiten, hast Du keine andere Lösung gesucht? Liebe – auch in der sehr aussergewöhnlichen Form, wie wir sie pflegten – ist noch immer besser als das Ertrinken im Trübsal, oder?“
„Ich erwähnte Möglichkeiten, Du erinnerst Dich?“
„Ach so. Du wolltest mich loswerden, um die Schlange interessierter, devoter Fick-und-Hau-Tussis auszuprobieren?“ Aufkommender Groll liess ihre Stimme rau wie Stahlwolle werden. Ich jubelte innerlich, denn ich wusste, dass dieser Groll nur dem Stachel der Eifersucht entsprungen sein konnte. Und genau das wollte ich über ihren Gemütszustand herausfinden. Meine Klaviatur der folgenden Dialoge war darauf vorbereitet.
„Na ja, ein, zwei…“, provozierte ich mit verträumtem Blick an die Decke, aber Elly fuhr mir über den Mund: „Mach Dir keine Mühe. Es interessiert mich nicht. Komisch, wie schnell Wein zu Essig wird, nicht wahr?“ Sie legte demonstrativ ihre Serviette auf den Tisch, stand auf und lief durch das gut gefüllte Restaurant zu den Toiletten am anderen Ende. Links und rechts verliebten sich die Männer spontan in sie, ihre Erscheinung hatte in all den Jahren nichts von ihrer Erotik eingebüsst.
Als sie ausser Sichtweite war, verliess auch ich den Tisch und liess nichts zurück. Es war, als könnte ich blind ihrer wunderbaren Duftspur folgen; bei der Herrentoilette verliess ich aber ihren Pfad und schloss mich dort ein. Irgendwie hatte die Situation eine Ähnlichkeit mit unserem allerersten Aufeinandertreffen, dachte ich und lächelte vor mich hin. Dann wartete ich mit dem Handy auf ihre Nachricht. Wenige Minuten später kam das erwartete „Wo bist du?“
„Ein gepflegtes Gespräch ist mit Dir offensichtlich nicht möglich, deshalb habe ich mich entfernt“, antwortete ich. „Vielleicht bietet der Abend ja noch die Möglichkeit, woanders eine – wie Du so schön sagst – „Fick-und-Hau-Tussi“ zu finden?“
„Dom G., Du bist ein Arschloch, und das weisst Du auch“, kam zurück. Oh, wie ich sie hörte, als ich ihre Zeilen las. Aber ich liess sie zappeln und sah von einer Replik ab. „Komm zurück und zeig Deine Grösse. Oder hast Du etwa Angst, süsser kleiner Dom, der sich nur mit Peitsche und gefesselten Frauen gross fühlt?“ Elly war durch eine harte Schule gegangen mit mir, und sie hatte gelernt, wie sie mich kriegen konnte. Nie hätte ich zugegeben, wer die Hosen wirklich anhatte. Die Hosen über ihren Wildlederpumps.
Nach einigen Minuten kehrte ich dann doch an den Tisch zurück; Elly war sichtlich bemüht, wieder freundlich zu wirken, um einen Abbruch des Abends zu verhindern. Ich half ihr dabei.
„Ich habe Dich vermisst, Elly. Es gibt diese Momente beim Sex, wo man spürt: Es passt einfach. Ich habe viel Sex mit unterschiedlichen Frauen gehabt, aber wenn ich zurückblicke, gab es nur eine Frau, bei der ich das Gefühl hatte: Jetzt passt es einfach. Dieser tief zufriedene Ausdruck auf Deinem Gesicht, die Augen geschlossen. Gelöst, angekommen. Mein Sadismus war der Brandbeschleuniger, der uns in diese Räume führte, die so vielen Menschen verborgen bleiben und all das ermöglichte.“
Elly hörte mir aufmerksam zu.
Mit forderndem Blick spitzte ich meinen Monolog zu: „Ich weiss, dass Du in der Zwischenzeit auch einen anderen Mann hattest oder ihn noch hast. Nichtsdestotrotz: Mein Vorschlag, der Dich vor ein paar Minuten so ungläubig und sprachlos gemacht hat, war ernst gemeint. Vanilla oder nicht, das ist höchstens eine Frage für das Dessert. Die einzige Frage, die uns betrifft, lautet: Wann? Denn eines weiss ich jetzt schon: Dass Du ihn annimmst, ist ausser Frage.“
Elly stampfte laut mit dem Fuss auf das Parkett und knickte dabei fast den Absatz ihres erotischen Schuhs. „Verdammter Mistkerl!“
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gangleader / Oliver G. Wolff 2024
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Elly & Dom G. haben schon viel erlebt. Die beiden Romane gibt es als Print- und e-Book auf allen möglichen Plattformen - einfach nach dem Autorennamen suchen oder mich direkt fragen.