Unsichtbar
Ich muss ein bisschen schmunzeln, wenn ich das jetzt erzähle. Gleichzeitig ist es ein Erlebnis, das mir das Blut in den Adern gefrieren lässt. Eine Geschichte, die ganz typisch mit dem Satz beginnt: „Eigentlich fing alles ganz harmlos an.“Nun: Eigentlich fing alles ganz harmlos an. Ich hatte zunächst nicht den leisesten Verdacht, dass ich an Bedeutung verlieren könnte, nicht für sie, diese wunderbare Frau, die sich nach nichts mehr sehnte als nach mir, meiner weichen Haut und meinen Händen, diesen grossen Händen, von denen sie immer schwärmte. Sie waren nicht nur gross, sie waren auch ausgesprochen böse. Aber ich schweife ab: Alles mündete in eine ungeheuerliche Erkenntnis, die sich an einem Pissoir mit automatischer Spülung in meinem Kopf wie ein bösartiges Krebsgeschwür auszubreiten begann.
Aber von Anfang an. Okey, das ist gelogen. Nicht von Anfang an, ich beginne etwa in der Mitte.
Nichts hatte Franziska für mich so aufregend gemacht wie ihr schlagfertiger Witz, mit dem sie den immer wieder auftauchenden Klippen des Alltags Paroli bot. Dumme Anmachsprüche von sich dominant haltenden Herrchen, die auch doch gerne mal gefickt hätten, und die sie stets mit einer simplen Antwort vernichtete: „Die Spiele, auf die ICH stehe, sind nichts für kleine Jungs!“
Dieses Privileg, mit ihr zu spielen, das war einzig meins. Und beileibe nicht das einzige.
Natürlich gab es noch ein paar andere Dinge, die Franziska aufregend machten. Der Anblick, als sie völlig hilflos vor mir auf dem Rücken lag, die Arme unter den bestrumpften Beinen gefesselt, schwarze Pumps daran, ihre Augen verbunden. Nicht nur ihr Hintern war gerötet, sondern auch ihre Rosette, die noch leicht geweitet ein kleines schwarzes Loch formte, wie dunkle Materie, der niemand ausweichen konnte; jedenfalls ich nicht. Ihr einzigartiger Gesichtsausdruck, als ich ihr danach das Bild davon zeigte, war unbezahlbar: eine unglaublich faszinierende Frau, schockiert von sich selbst und dem, was ich ihr angetan hatte. Von dem, was sie genossen hatte.
Nachdem wir hemmungslos die Spielarten unserer Lust ausgekostet hatten, heftig zwischen den Extremen unendlicher, tief empfundener Zärtlichkeit und nicht minder profunder, bösartiger Perversion hin und her gependelt waren, erzählten wir uns jeweils von unserem Leben. Gemeinsam lachten wir über das, was uns jeweils widerfahren war, und darüber, dass niemand vom illustren Kreis der Menschen um uns herum vermuten würde, dass wir taten, was wir taten. Wie wir es taten. Und mit wem.
Ich springe vorwärts zu jenem Abend, der alles zwischen uns veränderte.
Das Abendessen war schon lange verabredet gewesen, es fand an diesem besonderen Ort statt, der mit seiner rauen Eleganz und seinem industriellen Charme für mich die Quelle vieler dunkelbunter Inspirationen war und noch immer ist – am Rande der Stadt.
Bei einem Glas Rotwein und einem Filetto Di Manzo erzählte mir Franziska von ihren Wünschen und stellte mir Fragen über die Zukunft, die von einer allgemeinen und abstrakten Ebene immer tiefer und anspruchsvoller wurden und mich immer ratloser machten.
„Wie wird das mit uns enden?“, fragte sie. „Keine Ahnung“, murmelte ich, vielleicht etwas undeutlich, aber bestimmt hörbar. Franziska aber schien mich nicht gehört zu haben. „Meinst du nicht, ein Ende wäre besser?“
Was meinte sie damit? Eine plötzliche Angst überfiel mich, unerwartet wie ein Donner ohne Blitz aus heiterem Himmel.
„Franziska, was faselst du da?“ fragte ich sie, irritiert von ihren heftigen Worten. „Hörst Du mir denn nicht zu?“, klagte sie. „Franziska – wir hatten bisher immer so eine schöne Zeit zusammen, eigentlich…“
Ich kam nicht dazu, den Satz zu beenden.
„Warum antwortest du nicht?“ fuhr sie mich mit stechenden Augen an. „Kannst du meine Agonie denn nicht erkennen? Dass ich versuche, dir klar zu machen, dass mir das alles hier zu wenig ist? Unsere Teilzeit-Universen, die sind nichts für schwache Nerven, und meine sind ziemlich am Ende. Oliver! Warum sagst du nichts dazu?“
Zu wenig? Womit denn? Hatte sie mich nicht verstanden, war meine Aussprache so undeutlich geworden? Hatte sie meine Sätze gar nicht gehört? Oder wollte sie mich nur abservieren, an diesem dunklen Abend am Rande der anonymen Grossstadt?
„Du bist blass, mein Lieber. Dein nebelgrauer Anzug hilft da auch wirklich nicht. Wo ist deine Dominanz, dein Engagement? Was hat dich so aus deiner Rolle geworfen, dass du nur noch ein Hauch deiner selbst bist?“
Bleich? Ich? Gefühlt war mein Kopf leuchtend rot vor Wut des Unverstandenen. Dennoch wankte mein Selbstbewusstsein auf einmal bedrohlich. Um mich zu vergewissern, dass ich noch ganz bei Verstand war, erhob ich mich unvermittelt vom Tisch und eilte zur Toilette. Vor dem Pissoir stehend, entleerte ich meine Blase.
Ein Näherungssensor in der Wand würde die automatische Spülung auslösen, sobald ich mich entfernte. Doch als ich danach zum Waschbecken nebenan ging, hörte ich sie nicht. Ob sie wohl kaputt war? Die Eingangstür öffnete sich, ein anderer Gast betrat die Toilette und stellte sich vor dasselbe Becken, an dem ich mich eben erleichtert hatte. Aber als er den Reissverschluss wieder geschlossen hatte und sich entfernte, funktionierte die Spülung.
Seltsam. Als hätte die Automatik mich nicht erkannt. Nicht erkannt und nicht gehört, wie Franziska fast den ganzen Abend lang. Kalter Schweiss quoll mir aus allen Poren. Lächerlich, ich weiss, aber die Situation liess mir keine Ruhe. Als der andere Gast gegangen war, stellte ich mich probehalber noch einmal ans Pissoir, um zu testen, ob mein wiederholtes Weggehen die Spülung diesmal auslösen würde.
Nichts geschah. Ich war unsichtbar.
Erst jetzt realisierte ich, dass der andere Gast mich nicht gegrüsst, nicht einmal eines Blickes gewürdigt hatte. Erschrocken eilte ich zurück zum Waschbecken, um mich im Spiegel zu betrachten. Da war ich doch! Ich sah mich, wie ich mich immer gesehen hatte. Fast. Ich bemerkte lediglich, dass einige meiner Altersflecken im Gesicht fehlten, ich sah jugendlich aus. „Gutes Licht!“, lobte ich laut die Einrichtung des Restaurants, um mich selbst zu hören; ich wusch mir die Hände, ausgiebig, und starrte dabei in den Spiegel, in meine Augen.
Wenig später war ich zurück am Tisch. Aber unser Tisch war frisch gedeckt und Franziska weg! Was zum Teufel…?
Nervös blickte ich mich um und stellte fest, dass sich niemand zu mir umdrehte oder mich sonst irgendwie beachtete. Nicht einmal der Kellner, der uns den ganzen Abend bedient hatte, nahm Notiz von mir. Panisch rannte ich durch die Eingangstür hinaus in die Dunkelheit. Jetzt gab es nur noch eine Möglichkeit herauszufinden, ob es mich noch gab. Ich blieb mitten auf der Strasse stehen. Bald sah ich zwei Autoscheinwerfer auf mich zukommen. Das Motorengeräusch wurde immer lauter, ein 8-Zylinder, fragte ich mich noch, unfähig, mich zu bewegen, geschweige denn in Sicherheit zu bringen. Kein Bremsenquietschen, kein Kreischen, nur ein dumpfer Knall.
Eine grosse Dunkelheit raubte mir die Sinne.
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„Oliver, Oliver!“ Gleissendes Licht fiel durch den winzigen Spalt zwischen den Augenlidern, als ich sie zu öffnen versuchte. Franziskas Stimme! Alles war weiss, nur ihr Gesicht konnte ich schemenhaft erkennen.
„Gott sei Dank, du kommst zu dir! Oliver, was ist passiert?“, wollte sie wissen. Doch ich konnte ihre Frage nicht beantworten, denn ich wusste weder, wo ich war, noch welchen Tag und welche Uhrzeit wir hatten. Gar nichts.
„Franzi, ich… wo?“ stammelte ich über meine Lippen, die sich anfühlten, als wären sie mit Blei aufgespritzt.
„Du wurdest bewusstlos auf der Toilette gefunden!“
Die Situation ergab keinen Sinn. Nichts ergab einen Sinn! Nur sehr mühsam und im Schneckentempo kehrten Fetzen der Erinnerung zurück. Nach einer gefühlten Ewigkeit wurde mir klar, dass ich in einem Krankenhausbett lag und mir gerade irgendwelche Flüssigkeiten durch den Tropf verabreicht wurden. „Wurde ich überfahren?“
Ihr herzhaftes Lachen! Nichts machte mich wacher als das. „Oliver, auf der Toilette ist kein Platz für ein Auto, das gross genug ist, um dich zu überfahren!“
Minute um Minute kam ich mehr zu mir. Aber ich konnte mir die Situation noch nicht erklären. Jedenfalls brummte mein Schädel und langsam spürte ich einen Verband, den man mir offenbar um diesen gewickelt hatte.
„Die Spülung, war sie…“ fing ich an, aber bog dann zu einer verständlicheren Frage ab: „Bin ich ohnmächtig geworden?“
„Sieht ganz so aus, mein lieber böser Mann“, antwortete Franziska. „Wir waren doch mitten in einem guten Gespräch, aus dem du dich plötzlich zurückgezogen hast.“
Es dämmerte mir immer mehr. „Du… willst mich verlassen.“ kam es bruchstückhaft aus meinem Mund. „Oliver, Du spinnst! Ich hatte Dir gesagt, dass die Teilzeitwelten nichts mehr für mich sind und wir endlich den Schritt wagen sollten. Den grossen.“
„Den grossen… was bitte?“ fragte ich. Kopfschüttelnd und mit einem süssen Lächeln im Gesicht erhob sie sich aus dem Besucherstuhl.
„Erhol Dich gut, jetzt wo Du wieder da bist. Und wenn Dein Kopf wieder ausgewickelt ist, wickle ICH Dich wieder…um meinen Finger.“ Dann drückte sie mir einen sanften Kuss auf die Stirn und machte sich auf, das Zimmer zu verlassen.
„Ja, das tust Du. Bestimmt.“ stammelte ich, kurz bevor die Türe hinter ihr ins Schloss fiel.
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Oliver G. Wolff / gangleader 2024. Mehr wie immer auf meinem Blog