Grundsatzfrage
Das ist ein wahrhaft spannender Thread, Gordon_N, den Du da entfesselt hast, denn er führt eigentlich in Grundsatzfragen und eine fast philosophische Debatte.
Sehr oft wird angenommen, es gebe so etwas wie Naturdominanz, etwas, das angeboren ist, dass man selbst nicht erlernen kann – nun, das liegt auf der Hand, ergibt sich aus dem behaupteten Begriff. Leider hat niemand sich die Mühe gemacht, ausdrücklich zu umschreiben, was das denn genau ist. Das ist meiner Meinung nach aber das Entscheidende.
Mir ist in den Sinn gekommen, dass diese „Naturdominanz“ etwas mit Aggression zu tun haben könnte, also mit der umstrittenen Frage, ob Aggression dem Menschen angeboren oder erworben ist. In der Diskussion darüber bin ich nicht zuhause. Ich gebe aber zu bedenken, dass um diese Frage auch schon „Glaubenskriege“ geführt worden sind, und das ist die schlechteste aller Möglichkeiten, sich Antworten zu nähern, denn diese Frage ist definitiv nicht Gegenstand des Glaubens, sondern des Wissens.
Für Deine Hartnäckigkeit, darauf zu bestehen, dass Dominanz, Dom sein erlernbar ist, bin ich Dir dankbar. Sie hat mich dazu gebracht, weiter über das Thema nachzudenken.
Etwas anderes als Aggression als die Quelle für die angesprochene „Naturdominanz“ ist mir nicht eingefallen. Wenn sie also den wahren dominanten Menschen definieren soll, der nicht einer Mode des Zeitgeistes hinterherläuft, bedeutet das wohl, dass dieser Mensch über ein hohes Maß an Aggression verfügt. Dies bestimmt, weil definitionsgemäß angeboren, sein ganzes Leben, seinen ganzen Alltag. Wenn es sein Verhalten prägt, prägt es das nicht nur im sexuellen Umgang mit seinem Gegenüber, sondern in allen Lebensbereichen. Eine andere als die dominante Rolle entspricht dann auch in der Sexualität nicht seiner wahren Natur. Wenn seine Befriedigung (auch) hieraus entspringt, wird er nicht befriedigt, wenn er im Bett eine submissive Rolle einnimmt. Man kann freilich annehmen, dies sei mit dem Y-Chromosom verknüpft und landet dann bei der These von der masochistischen Natur der Frau. Tut man dies nicht, ist aber die hier im Thread erwähnte Frau, die ihren Alltag und ihr Berufsleben selbstbewusst und dominant bewältigt, im Bett aber mit Freuden und lustvoll submissiv ist, nicht wirklich vorstellbar. Switchen ist dann ebensowenig denkbar.
Für mich folgt hieraus, dass die Annahme nicht viel taugt, es gebe eine angeborene „Naturdominanz“. Sie erklärt nicht, was es aber dennoch gibt: die im Bett submissive Frau, die im Berufsleben mit viel Erfolg dominant erscheint, und auch nicht den Switcher, jedenfalls wenn es sich dabei um mehr als eine bloße Rollenverwirrung handelt, es ist ja schon gesagt worden, so ein Mensch könne nicht wirklich in beiden Rollen Befriedigung erfahren, wofür der Beleg noch aussteht.
Für Deinen Hinweis auf den autoritären Führungsstil bin ich Dir sehr dankbar. Ich möchte ihn nämlich aufgreifen, um auf den Bedeutungsunterschied aufmerksam zu machen, der zwischen den Begriffen autoritär und diktatorisch allmählich verschwunden ist. Denken wir an Autorität, wird er aber noch sichtbar: Der Autorität wird Kompetenz zugesprochen, die nicht allein im Fachwissen wurzelt, sondern durch die zusätzliche Qualität ergänzt wird, die der Mensch aufweist. Von der Wurzel des Begriffs in der Geschichte der römischen Republik (auctoritas) kann man lernen, dass sie wirksam wurde, wenn die Grundlage für Befehl und Gehorsam (potestas) gefehlt hat. Es geht dabei also gerade nicht, wenn es auch modernem Sprachgebrauch entspricht, um Befehl und Gehorsam in einem technischen Sinn.
Die Nuance spielt hier, meine ich, eine Rolle. Wenn „Naturdominanz“ verlangt wird, um Sub zum zittern zu bringen, ist es eben nicht der Befehl, der gesprochen wird, sondern das Charisma der Person, die ihn ausspricht, und sei es nur als höflich formulierte Bitte.
Dieses Charisma der Person (um das missverständliche „Autorität“ zu vermeiden) ist nicht angeboren, sondern erworben, das ist, glaube ich, einhellige Meinung. Deshalb ist prinzipiell auch möglich, es zu „lernen“. In dem Sinne kann man/frau dann wohl auch die bewusste Entscheidung treffen, Dom zu werden, und sie erfolgreich umsetzen. Aber das Lernprogramm erschöpft sich nicht auf das Bondageseminar, so wenig wie Führungsqualität sich auf den Managementkurs beschränkt. Das Lernprogramm ist viel umfassender, soll es zu der charismatischen Persönlichkeit führen, von der ich hier rede.
Sehr überzeugend finde ich auch Deinen Hinweis darauf, dass bei dem Spiel des Doms mit der Sub die sexuelle Lust eigentliche Triebfeder des Handelns ist. Letzten Endes geht es im Grunde um sexuelle Erregung und sexuellen Höhepunkt. Hierfür ist doch ganz maßgeblich, die Begierden und heimlichen Sehnsüchte zu erkennen, die des Partners genauso wie die eigenen, denn zu Recht hast Du, Gordon_N, hervorgehoben, dass die Erregung der Partner sich wechselseitig beflügelt. Dafür ist aus Erfahrung und Lernen geborenes Wissen genauso erforderlich wie die Fähigkeit, hellwach und genau zu erfassen, was in dem anderen wie in einem selbst vorgeht. Das muss zu dem Wissen dazu kommen, wie ich das Spiel technisch perfekt spiele. Es handelt sich hierbei um eine Fähigkeit, die auch außerhalb des BDSM eine Rolle spielt, die die Qualität als Liebhaber ausmacht.
Wenn man an der Unterscheidung D/S und S/M festhält, muss man allerdings beachten, dass dieselben Unterscheidungskriterien dann auch hier gelten. „Naturdominanz“ muss man dann nach denselben Kriterien von „Natursadismus“ unterscheiden. Daher sind Argumente, die mit sadistischer/masochistischer Lust hantieren, nicht relevant.
Mein Ergebnis ist also, ja, Dom ist lernbar, aber das Pensum ist größer als man sich vorstellt.
Just
.
Liebe Grüße und vielen Dank an alle für die Debatte.
Charly