Zwei Koffer voller Anfang
Noch einmal setzte sich Marion an den Küchentisch. Ein letztes mal um still für sich Abschied zu nehmen, von dem, was bisher hier ihr Leben ausmachte.Ihre Lederjacke, die sie gleich anziehen würde legte sie fast liebevoll auf ihre Knie und strich sanft darüber, als ob mit dieser zärtlichen Geste, ein wenig Ordnung in ihr Leben treten würde.
Sie musste fast über sich selber lachen, als sie sich noch einmal umsah. Ja, sie hatte noch einmal die Küche gerichtet bevor sie ging. So war sie nun mal!
In wenigen Minuten würde das Taxi kommen und sie würde die Haustür mit dem Blütenkranz als Frühlingsboten daran, ein letztes mal schließen. Und damit auch hinter sich die Brücke zu all dem abbrechen, was ihre Hoffnung und ihr Dasein einmal ausmachte.
Eine Träne rollte über ihre Wange, obwohl sie im inneren ihres Herzens fühlte, dass es richtig war, was sie heute vorhatte.
Heute, an ihrem dreißigsten Geburtstag, war auch der Tag, an dem Marion endlich, wie das Umschalten einer Weiche, das unumkehrbar in ihre noch mutlosen Hände nehmen wollte, was ihr Kopf entschlossen lange vorausgeplant hatte.
In der vorigen Woche bereits, hatte sie sich bei Erdal, den sie noch als Beschuldigten aus ihrer Dienstzeit kannte, eine italienische Geburtsurkunde und eine Carta d’identità gekauft.
Ja, er hat sie ziemlich verdutzt angeschaut, als sie ihm im Café, von dem sie wusste dass sie ihn dort treffen würde, vor einem Monat anstatt den Dienstausweis, eintausend Euro über den Tisch schob und ihm das Geschäft vorschlug.
Als er in ihre Augen schaute und sie ihm erzählte was sie vorhabe und warum, wusste er, dass dies keine Falle war.
Es war die gleiche Stimme und die gleichen überzeugenden Worte, die ihm damals ankündigten, dass er es sportlich sehen solle, wenn sie ihn der Urkundenfälschung überführe.
Das sei ihr Job. Aber die Justiz werde schon dafür sorgen, das er wieder davon kommt.
Und so kam es auch.
Jetzt hieß sie Maria Zanchetta.
Am Morgen noch hatte Marion den Blumenstrauß und die Karte über Fleurop erhalten, die ihr Peter immer schickte, wenn sie Geburtstag hatte. Seit acht Jahren!
Der Honeymoon war rasch untergegangen, als sie viel zu früh heirateten, um die Erwartungen ihrer Eltern zu erfüllen und ihrem konservativen Leben, den Anschein von Solidität zu geben.
Ja auch sie hatte gedacht, sie könne in dieser Welt bestehen, in der es nur die Erwartungen der Anderen gab und für ihre Träume und Sehnsüchte kein Raum war.
Aber wie hätte sie das erkennen können, mit 22 Jahren und diesem Erwartungsdruck ihrer Umwelt. Stets fühlte sie sich wie in einer Presse. Festgenagelt unter dem Druck das sein und das tun zu müssen, was andere dachten, das richtig für sie sei.
„Das schaffst Du doch, Du bist doch eine starke Frau“ hörte sie stets und ja, sie schaffte alles. Übernahm die Organisation des Hausbaues, im Dienst die Fälle, an die sich andere nicht herantrauten und ihr nur Hilfe und viel Glück wünschten. Richtete später das Haus und organisierte den Urlaub. Man verließ sich auf sie!
Nur Marion hatte niemanden, auf den sie sich verlassen konnte.
Unglauben und Ignoranz dann, als sie im Dienst eines Tages zusammenbrach, als sie allein ein ganzes Jahr lang ein Strukturermittlungsverfahren bearbeitete, an dem an anderen Dienststellen sechsköpfige Ermittlungsgruppen sitzen.
Das war der erste Warnschuss, der ihr zu verstehen gab, dass sie nicht auf ihrem Weg, sondern auf dem Weg der Anderen war.
Und da war dann noch der Abend, als sie das erste mal den Mut hatte, Peter von sich zu stoßen, der sich auf ihr redlich Mühe gab, zu seinem wöchentlichen Erfolgserlebnis zu kommen. In einer Zeit, als die Leere und Agonie die sie in sich spürte, sie fast zu ersticken drohten. Ihre Bewegungen, das Wegstoßen nur noch wie ein letzter Überlebensreflex über sie kamen, weil sie nichts mehr fühlte und dachte. Die Leere wie eine Schraubzwinge um ihre Schläfen geklammert war.
Sie wusste nicht was es war, aber sie spürte schon lang, dass in ihr etwas war, dass sich gegen seine Zärtlichkeit wehrte, die irgendwann nur noch Pflichtübung war, wenn er sein vorhersehbares Programm abspulte.
Er tat ihr leid. Sie redeten darüber und als ob es daran läge, dass man den Ort an dem sie sich nicht berührt fühlte austausche, schlug er vor, doch mal in den Urlaub zu fahren, gemeinsam im Freien Sex zu haben oder in einen dieser Clubs zu gehen.
Als ob es darauf ankäme, wo man miteinander vögelt und nicht, welche die Seele küssenden und das Herz berührenden Zärtlichkeiten und Zuwendungen man miteinander austauschte.
„Ein typisches Konsumdenken“ und Marion schüttelte immer noch den Kopf, bei der Erinnerung daran.
Es folgte eine Zeit, in der sie sich nur noch aus dem Weg gingen. Marion funktionierte nur noch und Peter hatte auch am Wochenende Verpflichtungen im Verein, war bei seinen Eltern oder...............ja was tat er eigentlich? Es interessierte sie nicht.
Und nein, es war nicht das Desinteresse an ihm. Es war die Unberührtheit von diesem Korsett, dass sich Lebensentwurf nannte und unweigerlich mit jedem dahinschleichenden Tag, in eine Richtung führte, in welcher sie nicht bei sich ankommen würde.
Das spürte sie noch in ihrer Seele, so wie man körperlich sterbend, den nahen Tod erahnt.
Aber auch ihre Umgebung spürte, dass sie nun nicht mehr so funktionierte. Sich verschloss und verweigerte. Ihr unbefangenes Temperament, dass keine lebensfremden Autoritäten kannte, war spurlos aus ihrem Bild gewaschen. Sie platzte nicht mehr vor Wut zum Dienstbeginn, dass ein Jahr Ermittlungsarbeit den Bach runterging, wenn wieder einmal ein Menschenhändler freigesprochen wurde, obwohl er auch in der Hauptverhandlung durch Zeugen belastet wurde, alles nach einem abgesprochenen Urteil stank.
Das war ihr egal. Längst fühlte sie sich nicht mehr als Teil dieses Systems. Sie hatte sich entfernt.
Irgendwann abends, als sie den Werbemüll aus dem Briefkasten selektierte und ein Faltblatt der Volkshochschule in den Händen hielt, beschloss sie etwas zu tun. So wie man die Hand auf eine ausblutende Wunde hielt.
Ihre Wunde, das war ihre Seele. Und das Messer, diese Pflicht zur selbstlosen Funktion, die selbst kein Interesse daran hat, wen sie eigentlich benutzt.
Man muss zuerst eine Wunde versorgen, bevor man ein Messer entfernt. Und so lernte Marion romanische Sprachen.
Sie saugte sie förmlich in sich hinein, wie eine Verdurstende und fühlte dabei in sich, dass die Welt sie wieder hatte. Auch wenn da in einer kleinen Nische nur, ein zartes Pflänzchen, noch mehr von der Erde bedeckt als sichtbar, seine ersten grünen Spitzen zeigte.
Sie hatte vor, dies von niemandem zertreten zu lassen und hielt die schützenden Hände des Schweigens darüber.
Erst als Peter eines Abends plötzlich und unerwartet in der Küchentür stand, als sie spät abends nach Hause kam und den Wohnungsschlüssel auf das Schränkchen im Flur warf, sprach sie mit ihm darüber.
Nein, er glaubte ihr nicht. Theatralisch warf er sich auf den Küchenboden, umklammerte ihre Beine und flehte mit tränenerstickter Stimme, sie möge ihn nicht verlassen.
Erst als sie ihm die Lernunterlagen der Volkshochschule zeigte, ließ er ungläubig ab von ihr.
Aber für Marion war es eben das Initialerlebnis, in dem sie erkannte, wie weit sie sich voneinander entfernt hatten. Dass dies eben nicht der Mann war, den sie sich wünschte, dessen Souveränität sie achten konnte und sie wie ein schützender, wärmender Mantel umgab.
An diesem Abend äußerte Peter das erste mal, dass er sich Kinder mit ihr wünschte. Als ob es Zufall sei, wurde ihr auch von ihren und Peters Eltern fortan die Frage gestellt, ob es nicht langsam Zeit für Nachwuchs sei.
Und wie zur Entschuldigung: mit der verräterischen Floskel verbunden, dann werde schon alles wieder in Ordnung kommen.
Für sie war es nur ein weiterer Stoß zurück, in die Welt der Erwartungen, der seelischen Fesseln und der Daumenschrauben. Die Menschen und deren Erwartungen änderten sich nicht, auch wenn sie daran zu Grunde gehen würde.
Wie um nicht ihre Stimme benutzen zu müssen, aber dennoch bildhaft den Zustand dieser Fesselung herauszuschreien, ließ sie sich ein Tattoo stechen.
Eine schwarze Ranke wand sich seit dem, aus ihrer Scham heraus um ihren Körper und um ihre linke Brust, um ihr Herz. Und synonymhaft wie die Anfänge ihres kleinen, neuen Lebens, sprossen daraus Blüten weißer Lilien.
Sie genoss dabei den Schmerz, der nun körperlich fühlbar war, lange nachdem er nur seelisch wahrnehmbar, in ihr die unbefangene, nicht nachdenkliche junge Frau sterben ließ, die sie einmal war.
Sie hatte sich auch sonst äußerlich verändert. Nicht nur, weil sie oft gar keinen Appetit zum Essen hatte. Ihr Haar fiel nun weit über ihre Schultern und das geschlechtsneutrale Businessdress hatte sie einer langsamen Metamorphose gleich, gegen immer femininere Kleidung und Absatzschuhe getauscht. Ließ sich inspirieren, indem sie stundenlang in Cafés, im Variété oder einfach auf einer Parkbank saß. Entdeckte die Frau in sich und diese warme Weiblichkeit, die in ihr ruhte. In der ihre Seele ruhte und diese umgab wie ein würdevoller Schutzschild.
Mit diesem wärmenden Sonnenstrahl im Herzen, der ihr die Richtung dahin zu weisen schien, recherchierte sie irgendwann auch im Internet und ja, sie musste lächeln, in diesem unwirklichen, virtuellen Raum lernte sie Marc kennen.
Anfangs schrieben sie sich nächtelang e-mails. Später telefonierten sie oft stundenlang. Und er war nicht der Typ, der Gespräche begann mit: erzähl was von Dir!
Nein, Marc erzählte von sich, von seinem Leben, dass ebensolche trostlosen Aspekte kannte, wie das Ihre. Der ihr schon im nächsten Moment wieder zuhörte, sie verstand und dessen wertende Worte, sie so berührten, sie so klar deuteten und erkannten, dass sie sich wie in einem wundersamen Traum fühlte.
Irgendwann erzählten sie sich nachts die Geschichten, die sie beide vom Leben erwarteten und von der Liebe. Fast atemlos und bis in jedes Härchen, jede Faser ihres Körpers erregt, hörte sie ihm zu, wie er von Dominanz und Unterwerfung erzählte.
Und Marion berichtet ihm, wie sehr sie das erregte, wie sich der Mut und die Hoffnung in ihr regten, so etwas zu erfahren. Sich kompromisslos in die Hände eines Menschen zu geben, der ihre Wünsche kannte, sie respektierte und allem Anschein zum Trotz, durch die Schmerzen, die Demut die er ihr abverlangte, ihre Seele befreite. Diese Seele in Höhen fliegen ließ, die ihr bisher verschlossen waren, wie durch eine Glasdecke.
Bei dem Gedanken daran und dem was Marc in ihr weckte, bekam Marion auch an diesem letzten Abend zu Hause, noch eine Gänsehaut. Sie brauchte noch einen Whisky, jetzt!
Marc rief sie an, nach einem Vierteljahr. Stellte ihr nur die Frage, ob Brief eins, zwei oder drei und legte danach auf. Drei Tage später erhielt Marion Brief Nummer drei. Darin eine Karte für die Samstagsvorstellung „Der eingebildete Kranke“ von Molière im Schauspielhaus.
Kein Brief dabei, kein Text, nur dieses Bilet.
Was für ein Stück, was für eine Inszenierung! Marion amüsierte sich prächtig.
Nach der Vorstellung, sie hatte gerade ihr Bolero angezogen und das Mobiltelefon wieder eingeschaltet, bekam sie die SMS: „die Tür zum Hinterhof, rechts neben der Damentoilette, jetzt!“
Im Hinterhof angekommen, sah sie im fahlen Licht einer alten Hoflampe für einen Augenblick nur Dunkelheit, roch Abfälle und Urin. Später nahm sie einen Wagen wahr, der in der Einfahrt parkte und schon spürte sie den eisernen Griff in ihre Haare. Fast hätte sie reflexartig, wie sie es einmal lernte, dem Angreifer einen Schock gesetzt und das Nasenbein mit dem Ellbogen zertrümmert.
Aber sie hörte Marcs Stimme, die im gleichen Augenblick, als er ihren rechten Ellenbogen packte ins Ohr flüsterte, dass sie jetzt in seinen Händen ist.
Sie hatte schon befürchtet, er könnte es nicht sein und so wich ihr Angst, der Neugier, was er mit ihr vorhatte, als sie das Timbre seiner Stimme vernahm.
Er schleppte sie zu dem Wagen, den sie bereits in der Einfahrt stehen sah, warf sie auf die Rücksitze des Fahrzeuges, fixierte sie mit den Händen und Beinen, in vorbereitete Schlingen und den Sicherheitsgurten und verband ihr die Augen.
Türen schlage, Reifen quietschen! Nach kurzer Fahrt, zerrt er sie aus dem Fahrzeug, was sie nicht wirklich beruhigte, da ihr die Fahrt über der Gedanke kam, dass sie ja nichts weiter von ihm wusste als den Vornamen, ein paar Lebensberichte und eine Telefonnummer. Ersteres und Zweiteres konnte man erfinden. Sie wäre auch sehr naiv, wenn gerade sie nicht wüsste, wie man anonym zu einer Telefonnummer kommen kann.
Sie mussten außerhalb der Stadt sein, es roch nach Land.
Er führte sie eine Treppe hinauf, eine Tür wurde geöffnet, kurz die Geräusche und der Geruch eines Gastraumes. Ihre Schuhe klapperten eine Holztreppe hinauf und schon saß sie auf einem Stuhl.
Stille!
Als sie die Augenbinde vom Kopf gezogen bekam und ihre Augen sich an das gedämpfte Licht gewöhnten, schaute sie in endlos tief braune Augen, die sie zwingend zu durchdringen schienen. Diese Augen und dieser Blick!
Seine Worte: „Du vertraust mir nicht“ waren wie ein Wegstoßen. Nein! Das wollte sie nicht, fand sich auf Knien wieder und sie sagte es laut.
Es bedurfte nicht der Aufforderung, es ihm zu beweisen. Sie wollte es längst selbst.
Wortlos zog sie sich aus bis sie völlig nackt war und legte ihren Kopf in seinen Schoß.
Sie hörte nur sein tiefes Einatmen, als das Zeichen seiner Zufriedenheit.
In dieser Nacht gab sie alles ab, was sie ausmachte. War sie nur noch ein Teil seines Willens. Und dabei mit einem Menschen so eins, wie sie es vorher mit keinem Menschen war.
Seine Hände banden sie, verletzten sie, verwöhnten sie. Waren wie der Kelch, wenn sie nach Zärtlichkeit dürstete und wie eine Decke, wenn sie fror.
Die harte Hand, die sie spürte, war die gleiche Hand, in die sie sich geben konnte, die sie hielt und auffing, wenn ihre Seele ihr zu entgleiten drohte.
Am frühen Morgen weinte sie beide vor Glück, sich gefunden zu haben.
Marion weinte jedes Mal, wenn sie sich trafen. Zwei Jahre lang.
Sie war eben nur die Nummer zwei. Denn Marc war verheiratet und hatte nicht die Absicht sich von seiner Frau scheiden zu lassen. Dazu waren beide miteinander zu sehr organisiert, wie er es nannte.
Sie hatte nicht die Kraft, dies auf Dauer auszuhalten! Sie würde auch daran zerbrechen, so fühlte sie. Sie wollte eine Nummer eins sein!
Und so kam ihr dreißigster Geburtstag und Monate vorher der Entschluss, diesen Tag zu einem Wendepunkt in ihrem Leben zu machen.
Alle Brücken hinter sich abzubrechen, auf dem Weg zu sich selbst, auf dem Weg in ihr Leben.
Marion trank den Whisky aus, zog sich noch schnell eine schwarze Leggins über die Strumpfhose, denn die Nächte waren noch kalt.
Als sie vor der Haustür den Diesel des Taxis nageln hörte, zupfte sie sich schnell den kurzen Jeansrock zurecht.
Das Läuten der Hausklingel war für sie der Startschuss, ihre Lederjacke überzuziehen, die Handtasche und die beiden Koffer zu nehmen und den vorbereiteten Zettel auf den Küchentisch zu legen.
„Ich bin auf meinem Weg. Bitte such mich nicht, Marion“ stand darauf.
„Zum Bahnhof“ fragte der Taxifahrer, der ihr nach alter Schule die Koffer aus der Hand nahm und ohne auf eine Antwort zu warten, diese zum Taxi schleppte. „Ja zum Bahnhof“ antwortete Marion wie für sich, als sie ihre Hausschlüssel in den Briefkasten warf.
Ojeh, haben sie da eine Leiche drin“ setzte der Taxifahrer nach, als er Marions Gepäck umständlich im Kofferraum verstaute.
„Nein, meinen Anfang“ erwiderte Marion und schmunzelte.
„Na dann viel Glück, wenn ein Anfang so schöne Augen hat, dann wird der Erfolg kaum ausbleiben“ hörte Marion ihn sagen, als er den Kofferraumdeckel ins Schloss warf.
Ein neuer Tag war längst angebrochen, als Marion schließlich in Köln in den TGV gestiegen war, die Landschaft an ihr vorbeiflog und sie in ihr neues Leben fuhr.