Ein Märchen
Ein MärchenDer kleine Mut und die große Angst
Vor langer Zeit, vielleicht zu der Zeit, als die Menschen noch an Wunder geglaubt haben, gingen zwei seltsam aussehende Gestalten miteinander spazieren. Die eine Gestalt war riesig, trug zerissene, graue Kleider, und schaute sich fortwährend um. Die andere Gestalt war viel kleiner, hüpfte und sang in einem fort. „Lass das!“, brummte der große Graue, wobei er sich misstrauisch umsah. “Was singst und lachst du nur die ganze Zeit. Weißt du nicht, was alles passieren kann? Wer weiß, was dort hinter der nächsten Biegung auf uns wartet.“ Fröstelnd zog er seinen Mantel enger um sich. „Ich hätte nicht auf dich hören sollen. Wäre ich zuhause geblieben, müsste ich mich jetzt nicht so fürchten.“
Der Kleine fing lauthals an zu lachen. „Oh, ich glaube nicht, dass es dir zuhause besser gehen würde! Sitzt du doch immer nur da und bläst Trübsal! Nein, nein, hier draußen, da ist es schön! Hier scheint die Sonne, die Vögel singen,….“ „Jaja, die Vögel!“ schnauzte der Graue. „Sie sollten vorsichtiger sein. Sonst geschieht ihnen ein Unglück.“ „Aber wenn sie nicht singen, dann erfahren wir nicht, dass der Winter vorbei ist, der Frühling vor der Tür steht,“ widersprach der Kleine mit leuchtenden Augen. „Keiner weiß dann, dass das Leben neu beginnt, alles wieder aufwacht.“ „Und wozu? Doch nur, damit im Herbst wieder alles stirbt!“ meinte der Graue.
Der Kleine blieb stehen. Ganz ernst sah er auf einmal aus. „Wovor hast du nur solche Angst, mein Freund. Natürlich müssen die Pflanzen sterben. Aber doch nur, damit sie wieder neu leben können. Gib mir deine Hand,“ bat der Kleine. „Wie kalt sie ist, ich werde sie wärmen. Schließ die Augen, “ forderte er seinen Begleiter auf. “Schließ die Augen, und trau mir.“ Und er führte den Grauen zu einer Stelle, an der die Sonne hell und warm schien. Dort setzten sich die beiden nieder, und der Kleine begann zu erzählen.
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Vom Mut des Lebens, dass immer wieder neu anfängt, auch dann, wenn alle schon verzweifeln wollen, weil sie glauben, es geht nicht mehr weiter, vom Mut des Neuanfangs, immer und immer wieder. „Aber jeder Anfang gelingt nur zusammen,“ erzählte der Kleine weiter. „Alleine geht es nicht. Du musst Vertrauen haben. Dann wird es gelingen. Auch wenn es nicht immer gleich klappt.“
Der Kleine war mit seiner Geschichte zu Ende. Müde sah er aus, aber glücklich.
Seine bunten Kleider schienen etwas von ihrer Farbe verloren zu haben. Auch wirkte er nicht mehr ganz so kräftig. Der Graue öffnete vorsichtig seine Augen, sah auf seinen Begleiter, und fragte erschrocken: “Was ist mit dir?“ Der Kleine lächelte. „Oh, nichts weiter. Ich bin nur ein bisschen müde. Ich werde mich aus-
ruhen, dann geht es wieder. Aber schau dich einmal an.“ Der Graue tat wie ihm
geheißen, und er staunte. Seine dunklen, farblosen Kleider waren auf einmal an manchen Stellen bunt. Auch fühlte er sich nicht mehr so mutlos. „Was ist passiert, “ fragte er den Kleinen. „Was hast du gemacht?“
„Oh, nicht viel, “ gab der schmunzelnt zur Antwort. „Ich habe dir nur ein wenig von deiner Angst genommen. Und wenn ich mich ein wenig erholt habe, dann gehen wir nach Hause. Wenn du willst, dann erzähle ich dir später noch mehr Geschichten.“ „Komm, “ sagte der Graue, „ich trag dich. Dann geht es besser.“
So machten sie sich auf den Heimweg. Tag für Tag sprachen sie nun mitein-
ander. Und wunderbarer Weise erholte sich der Graue, fing an, zu leben.
Mira, März 08