Vertrauen
Marie hielt den Hörer ihres Telefons noch in der Hand und starrte ins Leere. Ganz langsam nur hatten seine Worte einen Platz in ihrem Hirn gefunden, um sich zu entfalten und ihr bildreich klar zu machen, was er von ihr verlangte.
Doch das, was sie sich mit ihrem geistigen Auge vorstellte, schien so unmöglich, daß sie es abzuschütteln versuchte.
Ein Blick auf die Uhr und sie wusste, daß ihr nicht mehr viel Zeit bliebe, sich zu entscheiden.
Bedingungsloser Gehorsam war nicht wirklich einer ihrer Stärken.
Es gab schon einige Situationen, wo sie sich seinen Aufforderungen widersetzt und lieber die daraus resultierenden Konsequenzen in Kauf genommen hatte.
Marie streichelte bei dem Gedanken an ihrem letzten "Nein" ganz unbewusst ihre Brust. Ganz leicht biss sie sich dabei auf ihre Lippe, denn auch der Schmerz rief sich schnell wieder in Erinnerung.
Doch dieses Mal war es anders.
Jetzt forderte ihre Liebe zu ihm ihren Tribut und mit einem "Nein" käme sie nicht so einfach aus der Sache raus.
Sie hatte ihm grenzenloses Vertrauen geschworen und das aus tiefstem Herzen und nun wollte er den Beweis.
"Um zwanzig Uhr wirst du dich ausziehen, deine Manschetten anlegen und demütig, wie ich es dir beigebracht habe, das Päkchen Tabak und die Blättchen zu dem Nachbarn über dir bringen!", hatte sie noch seine Stimme im Ohr und wieder lief ein leichter Schauer über ihren Körper bei der Vorstellung seiner Aufforderung Folge zu leisten.
"Was ist, wenn jemand aus dem Haus mich so sieht? Wieso eigentlich zu dem Nachbarn? Wie wird er reagieren? Oder weiss er es sogar?" Eine Frage jagte die Nächste und dazwischen tanzten Verzweiflung und Angst. Und noch ganz unbemerkt kauerte die Lust in einer Ecke, das bunte Treiben beobachtend und süffisant lächelnd auf ihren Einsatz wartend.
Wieder ein Blick auf die Uhr und Marie entschloss sich nach dem Duschen weiter darüber nach zu denken.
Grenzenloses Vertrauen.
"Hatte sie vielleicht den Mund zu voll genommen? Liebt sie ihn wirklich so sehr, daß sie soweit über ihren Schatten springen könnte? Liebt er sie überhaupt, wenn er so etwas von ihr verlangen konnte?", Marie war verwirrt und wurde es noch mehr, als sie die Feuchtigkeit zwischen ihren Schenkeln spürte.
"Er hat mir geschworen, mich niemals fallen zu lassen. Seine Liebe sei meine Sicherheit, hatte er gesagt. Nun, vielleicht ist es an der Zeit auch seine Worte auf den Prüfstand zu schicken", flüsterte sie in sich hineine, während sie sich die Manschetten anlegte.
"Ich werde ihm heute meine Angst zu Füssen legen und ich hoffe, er wird sie aufheben!", mit diesen Worten nahm Marie den Tabak und die Blättchen und schlich auf allen Vieren die Stufen zur nächsten Etage hinauf.
Der Boden war kalt und hart, doch nicht deswegen zitterte sie wie Espenlaub, sondern die Angst rüttelte an ihr, als wolle sie mit aller Kraft ihre Gegenwart bekunden.
Doch auch die Lust hatte sich aus ihrer Ecke geschlichen und stahl der Angst mit jeder Stufe, die Marie erklomm, ein Stückchen Platz.
An der letzten Treppenbiegung schliesslich, sah Marie ihn.
Er hatte auf sie im Flur gewartet.
Marie streckte ihm die Rauchuntensilien entgegen. Langsam öffnete er den Tabak, nahm sich in aller Ruhe ein Blättchen, drehte sich eine Zigarettte und schaute endlich zu ihr. Sie blickte in das Gesicht eines Mannes, der ohne ein Wort zu verlieren, ihr sagte, wie sehr er sie liebt und wie stolz sie ihn machte.
LG Ivy
P.S.: Herr Haller, ich hoffe sie haben nichts dagegen, daß ich mich von ihrem Bild inspirieren ließ.