Federica Gregoratto//Polyamorie
1.
Dies ist kein Manifest. Polyamorie ist kein Lifestyle und keine Lebensweise, die an sich besser wäre als andere. Sie führt nicht notwendigerweise zu sozialer Gerechtigkeit und gesellschaftlicher Freiheit – allerdings wird eine bessere Gesellschaft die Möglichkeit von Poly-Beziehungen anerkennen und fördern.
2.
Wir werden nicht polygam oder monogam geboren. Polyamorie ist nicht natürlicher als Monogamie. Die Natur individueller Impulse, Triebe, Wünsche, Affekte und Emotionen ist anarchisch, kontingent, wirr und divers, sie lässt sich nicht auf universelle, feste Gesetze reduzieren. Manche Menschen, unabhängig von Gender und Sexualität, können sich „natürlich“ (heftig, unkontrollierbar) zu mehr als einer Person auf einmal hingezogen fühlen und sich verlieben – andere nicht. Sowohl die Polyals auch die Mono-Varianten von Begehren und Gefühlen sind natürlich. Beide können uns, auf unterschiedliche Weisen, verletzlich machen.
3.
Polyamorie ist nicht (nur) das Resultat einer bewussten, auf guten Gründen beruhenden Entscheidung. Wir beschließen nicht, poly zu leben, weil es „cool“ ist, wir es für moralischer halten oder ein politisches Projekt daraus machen wollen. Wir geraten in die Polyamorie hinein, so wie wir uns verlieben: ohne Plan und ohne zu wissen, ob es eine gute Idee ist oder nicht. Es geschieht – vielen Menschen, nicht allen; manchen nur einmal im Leben, manchen mehr als einmal. Manche von uns haben eine konsistente Neigung zu multiplen, simultanen sexuellen und romantischen Wünschen und entschließen sich, damit offen und ehrlich umzugehen. Doch der entscheidende Punkt des polyamourösen Projekts ist eine Reaktion auf das, was mit uns und mit denen, die wir lieben, geschieht. Es ist die Wahl, die Verletzlichkeit – die Ungewissheit, die Angst vor Verlust und Veränderung – mutig in Kauf zu nehmen. Es kann gute Gründe dafür geben, diese Wahl nicht treffen zu wollen.
4.
Eine polyamouröse Beziehung ist kein Vertrag und lässt sich nicht auf einen solchen reduzieren. Sie unterscheidet sich wesentlich von der Ehe, wenngleich natürlich auch verheiratete Menschen beschließen können, poly zu leben. Liebende können den Wunsch haben, für sich selbst Regeln festzulegen und Grenzen zu ziehen. Dies ist eine wichtige Übung der Selbsterkenntnis und Selbstentfaltung. Regeln und Grenzen drücken aus, wer wir sind, was wir tun und sein wollen. Doch wenn es um Liebe und Sex geht, werden Regeln unweigerlich gebrochen, Grenzen überschritten. Die „Kunst“ der Polyamorie ist eine kontingente, kontextabhängige, ambivalente Praxis: Wie vollziehen wir solche Überschreitungen, wie akzeptieren und begrüßen wir Abweichungen, wie handeln wir unsere Regeln neu aus und wandeln sie ab? Wie überwinden wir dabei unsere Furcht? Diese wichtigen Fragen sind nicht a priori beantwortet.
5.
Der Fokus der Polyamorie ist nicht das Ich, sondern es sind die anderen und das Wir. Wir verstehen, was es heißt, poly zu sein und zu leben, wenn wir nicht nur daran interessiert sind, unsere egoistischen Gelüste und Wünsche zu befriedigen, sondern die Gelüste und Wünsche des anderen – die womöglich mit unseren eigenen kollidieren – zu verstehen, anzunehmen und zu begrüßen. Polyamorie ist eine Übung darin, die eigene Perspektive zu dezentrieren: indem wir die Perspektive der anderen mitdenken, ohne zu glauben, dass wir alles über sie wissen; indem wir uns von der Illusion verabschieden, das Begehren der anderen kontrollieren zu können. Polyamorie ist kein Ausdruck individueller, negativer Freiheit und somit von (Selbst-) Kontrolle. Sie baut ein neues Wir auf, sie eröffnet neue Wege des kollektiven Lebens.
6.
Bei Polyamorie geht es nicht um Sicherheit und Unbesiegbarkeit, sie ist nicht eine Art emotionales Bankdepot. Vielleicht denken wir: Wenn es mit jemandem schiefläuft, habe ich ein anderes Eisen im Feuer. Aber so läuft es nicht (siehe Thesen 3 und 4). Jede Liebes- und jede sexuelle Beziehung hat die kognitive und affektive Konsequenz, unsere eigene radikale Verletzlichkeit zutage zu fördern. Wenn wir mit mehr als einer Person sexuell und emotional verbunden sind, multipliziert sich die Verletzlichkeit. Dieses Mehr an Verletzlichkeit bringt nicht nur mehr Gelegenheiten für Schmerz mit sich (etwa die Angst, verlassen zu werden), sondern auch für Formen der Manipulation und Ausbeutung. Damit wird die Polyamorie potenziell zu einer Übung im kritischen Denken: Wie und in welchem Maß kann die Abhängigkeit von anderen – ihrer Anerkennung, ihrer Fürsorglichkeit, ihrem Begehren – aufhören, gefährlich zu sein, und stattdessen ersprießlich und produktiv werden? Die Antworten auf diese Frage haben eine feministische, aber auch eine antikapitalistische, anti-neoliberale Relevanz.
7.
Bei Polyamorie geht es nicht um Effizienz oder Selbstoptimierung: Uns unserer Verletzlichkeit zu stellen, ist ein schwieriges, mühevolles und zeitaufwendiges Unterfangen. Wir vergeuden Zeit, verschwenden unsere emotionalen und materiellen Ressourcen. Die Zeit, die wir mit unseren Geliebten verbringen – und mit der Suche nach dem, was wir wollen und wie wir leben wollen –, ist geraubte oder gekaufte Zeit; Zeit, die wir uns nicht für produktive Tätigkeiten nehmen. Das Projekt Polyamorie lässt sich nicht mit ökonomischer Rationalität in Einklang bringen.
8.
Bei Polyamorie geht es nicht nur um Sex. Es geht auch um Arten, Freundschaft wertzuschätzen, die in der derzeitigen gesellschaftlichen Organisation nicht vorgesehen sind. Aber um Sex geht es auch, um die Wechselbeziehungen zwischen Sex und anderen Formen von Intimität. Polyamorie treibt uns an, verschiedene Möglichkeiten des Lebens und Liebens zu erkunden. Poly-Beziehungen können viele Gestalten annehmen – „V“ (wenn eine Person zwei Geliebte hat, die aber untereinander nicht verbunden sind), „Dreier“ (in dem alle erotisch verbunden sind), „Vierer“, intime Netzwerke, Beziehungsanarchie et cetera. Manchmal hilft es zu wissen, wie man sich selbst bezeichnet, und manchmal blockieren Kategorien und die damit verbundenen Regeln und Grenzen den Prozess der erotischen Subjektwerdung. In sozialen Zusammenhängen, die es Menschen zum Beispiel aufgrund ihrer geschlechtlichen Identität schwer machen, Subjekt zu werden, kann das Experimentieren mit multiplen Beziehung(sform)en eine feministische Praxis sein.
9.
Bei Polyamorie geht es nicht um die Überwindung der Eifersucht. Es geht vor allem darum, die sozialen und psychologischen Wurzeln der Eifersucht zu erkennen. Polyamorie ist eine Übung der (Selbst-)Erkenntnis auf individueller wie auf soziopolitischer Ebene. Das Gegenteil von Eifersucht ist als compersion (Mitfreude) bezeichnet worden: dass wir mit unseren Geliebten das Glück teilen können, das sie anderen Geliebten verdanken – oder mit ihnen leiden, wenn sie Liebeskummer haben. Dabei ist die Vorstellung implizit, dass Gefühle ansteckend seien. Mitfreude fühlt sich gut an, sie muss aber dem Wunsch nach vollkommener Transparenz widerstehen, denn Transparenz bedeutet Kontrolle. Schatten und tote Winkel in der Kommunikation, im Einander-Verstehen, prägen Poly-Beziehungen in unheimlicher und kostbarer Weise.
10.
Polyamorie ist nicht anti- oder postromantisch. Ein untilgbarer Nimbus des Romantischen umweht das gesamte polyamouröse Projekt. Doch die Schönheit der Polyamorie liegt auch in der Modifizierung und Neuerfindung von Lebensweisen, die traditionell nicht als romantisch gelten – sei es beim Großziehen von Kindern oder sei es in der Umgestaltung urbaner Gemeinschaften, Landschaften, Lebensräume jenseits der traditionellen Schemata von Paarbeziehung und Familie.
11.
Polyamorie kann ein wertvolles ethisches und politisches Projekt sein, so wie es einige der vorigen Thesen nahelegen. Das ist sie aber nicht immer und muss sie auch nicht sein. Dominanz, Zwang, Gewalt, Missachtung, Lügen und andere unerfreuliche Dinge kommen in Poly- ebenso wie in Nichtpoly-Beziehungen vor. Da mehr Menschen einbezogen sind, eröffnen Poly-Konstellationen mehr Möglichkeiten für schädliche Machtkämpfe. Das Mehr an Verletzlichkeit (siehe These 6) kann ein stärkeres Bedürfnis nach Kontrolle, Dominanz und schädlicher Einflussnahme hervorrufen. Zugleich bringt uns die erhöhte Verletzlichkeit dazu, andere Wege im Umgang mit Ambivalenzen und Zweifeln zu finden. So können wir neue solidarische Bündnisse schließen, kreative Formen der Kooperation entwickeln, hin zur Überwindung von Individualismus und Egoismus. Die Theorie der Polyamorie ist eine Art Lupe, die uns hilft, bestehende soziale Probleme besser zu begreifen, sowie Alternativen vorwegzunehmen. Die Praxis der Polyamorie wird von jeder und von allen erdichtet. •
Federica Gregoratto ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Fachbereich Philosophie an der Universität St. Gallen. Derzeit schreibt sie an ihrer Habilitation mit dem Titel „Love Troubles. A Social Philosophy of …