Gefahrenantizipation
Tach !
Das Zauberwort heißt "Gefahrenantizipation". Es ist der konstruktive Gegenbegriff zur klassischen Formel des Harakiri-Bikers: "Wenn man hinter jeder Kurve immer n Trecker auf der Strasse vermuten würde, dann kann man gleich Bus fahn !"
Ein ganz enormer Teil der Gefahren, die dem Motorradfahrer drohen, sind beherrschbar - wenn man die dafür erforderlichen fahrerischen Kompetenzen hat: den Umgang mit Bremse(n), sehr schnellen Richtungswechseln, und dem Gasgriff halbwegs beherrscht, seine Maschine einigermaßen "im Griff" hat, halbwegs gut "im Training ist". Das ist die halbe Miete - aber eben nur die Halbe.
Die andere Hälfte besteht in der Gefahrenantizipation, dem "scannen" der Strasse und ihres Belages, der Verkehrslage, der Landschaft - auf der ständigen Suche nach Gefahrenquellen und den Auswegen aus sich nur möglicherweise bietenden Gefahren. Der Sinn und Zweck dieser Maßnahme besteht einerseits in der Suche nach Fluchtwegen - andererseits, und das ist meiner Meinung nach noch wichtiger, in der Vermeidung von Schrecksekunden und einem koordinierten, zweckmässigen Handeln in dem Falle, in dem die antizipierte Gefahr tatsächlich eintritt.
Das tatsächliche konkrete Handeln beim Motorradfahren, das Bremsen, Ausweichen usw. erfolgt, wenn man vom blutigen Anfänger absieht, nicht aus dem Bewußtsein heraus, aus einem rationalen Kalkül, sondern aus tieferen Hirnschichten - "aus dem Bauch heraus". Dieses Handeln erfolgt sehr schnell, weitaus schneller, als man denken und bewußt entscheiden kann. Indessen müssen die "Handlungsprogramme", von denen diese Manöver gesteuert sind, "hochgefahren" sein. Und genau dies ist der eine Zweck der Gefahrenantizipation. Der zweite ist die Verkürzung der Schrecksekunden. Denn die "Schrecksekunde" dauert meistens weitaus länger als eine Sekunde - meistens mehrere: einundzwanzig - zweiundzwanzig - dreiundzwanzig - peng, und Du bist tot.
Dieser Schreck tritt nicht oder nur in weitaus geringerem Maße ein, wenn man auf das Ereignis, daß den Schreck auslösen könnte, vorbreitet ist.
Dieses Konzept des Umgangs mit Gefahr und die ihm zugrundeliegenden Tatsachen beruht nicht auf eigener Überlegung kraft meiner Wassersuppe, sondern wird mitgeteilt von Bernt Spiegel, in der "Oberen Hälfte des Motorrades". Spiegel ist mein Guru, und sein berühmtes Buch meine Motorrad-Bibel, die mehrmals jedes Jahr gelesen wird. Bernt Spiegel befasst sich nicht nur seit über 50 Jahren wissenschaftlich mit dem Motorradfahren und dem Strassenverkehr, sondern er ist auch - was viele, die ihn als Theoretiker abtun, nicht wissen - eine Korpyphäe auf dem Motorrad, der noch als 80-jähriger die Nordschleife des Nürburgrings unter 9 Minuten fährt. Wer sagt, dieser Mann hätte keine Ahnung, soll mal seine eigene Rundenzeit angeben.
Ich war noch nie auf dem Nürburgring, soweit bin ich noch nicht, und habe auch manchmal Zweifel, ob ich jemals soweit kommen werde. Aber ich arbeite an mir nach seinen Ratschlägen und fahre buchstäblich sehr gut damit.
Mein "zündendes Erlebnis" zur Gefahrenantizipation möchte ich hier wiedergeben: Es war letztes Jahr im Harz gewesen, in einer Rechtskurve leicht bergauf, normale Fahrbahnbreite, nicht gut ausgebaut, aber auch nicht schmal. Meine Geschwindigkeit war mässig, aber nicht wirklich langsam. Die Kurve war blind, rechts Hang und Nadelwald. Ich bin "lehrbuchmässig" fast am Mittelstreifen angefahren, und habe schön getreu dem Spiegel-Rezept mit dem Entgegenkommer auf der eigenen Spur gerechnet, war "fit" zum Ausweichmanöver nach innen. Und die Dose kam, bis etwa zur Hälfte auf meiner Spur - und mit einer ganz merkwürdigen Ruhe und Gelassenheit bin ich "um die Dose herum" gefahren, wie um ein Hütchen auf dem Verkehrsübungsplatz, hart an den rechten Strassenrand heran. Mein Bewußtsein in diesen Augenblicken war extrem "strange" - ich habe alles genau wahrgenommen, es lief wie in Zeitlupe ab, habe genau registriert, wie das Manöver ablief, das scharfe einknicken nach rechts, und dann wieder das "aufmachen", um nicht in den Graben zu fahren ... ohne jede Panik - eben ruhig und gelassen, viel ruhiger sogar, als eine normale flotte Kurvendurchfahrt. Erst hinter der Kurve haben nicht nur meine Knie angefangen zu zittern, und ich war froh, nach ein paar 100 m weiter eine Waldweg-Einfahrt für eine sehr nötige Zigarettenpause zu finden.
Das war nicht das erste und beileibe nicht das einzige dieser Erlebnisse, aber das "Knackigste".
Und von daher empfehle ich guten Gewissens allen, aus jeder blinden Kurve den Entgegenkommer kommen zu sehen, und hinter der Kurve die Waldmaschine auf der Strasse, oder das Schlagloch. Jede Autotüre am Strassenrand öffnet sich - jeder wartende PKW an der Einmündung fährt trotzdem an undsoweiter.
Gruß vom
Nacktzeiger