Vertrauen
Mahlzeit !
Wenn man das ganze mal etwas abstrahiert: es geht darum, daß man Vertrauen ins Motorrad entwickelt - ob mit Gymnastikübungen auf dem Verkehrsübungsplatz, Geländefahren oder sonst wie, die Methode ist, solange sie nicht zu übermässigen Gefahrenlagen führt, letztlich gleichgültig.
Auch hier führen viele Wege nach Rom, und man sollte den gehen, der einem selbst persönlich am leichtesten fällt.
Mir als "verkopftem" Typ war die Lektüre von Spiegels Ausführungen zur Fahrphysik ungeheuer hilfreich: die rationale Einsicht in die Eigenstabilität des fahrenden Motorrades und der physikalischen Gesetzmässigkeiten, auf denen sie beruht, hat mir sehr dabei geholfen, ein solches Vertrauen in gewissem Umfange "blind" zu gewähren. Ich wußte rational, dasses funktioniert, wußte warum - nur so recht glauben konnt ich's nicht. Ich wußte auch, woher meine anfängliche Schräglagenscheu (welcher Anfänger hat sie nicht?) herrührte, und warum sie auf dem Motorrad unbegründet ist, ja aus Sicherheitsgründen abgebaut werden muß. Das war übrigens mein erstes großes Trainingsvorhaben: Abbau der Schräglagenscheu - tief, tiefer, noch tiefer, bis die Angstrille am Hinterrad auf ein paar Millimeter zusammengeschrumpft war. Der Elephant von Metzler bekommt den Rüssel poliert, das Michelin-Männchen seine Glatze. An den Contis, die ich derzeit auf der GS fahre, ist leider sowas nicht am Hinterreifen, aber an der GS ist der Reifen eh auf Kante gefahren.
Das heißt nicht, daß ich schnell fahren würde - es heißt nur, daß ich die Schräglagenfreiheit recht weitgehend ausnutze.
Das Gefühl des Anfängers auf dem fahrenden Motorrad ist mir sehr gut erinnerlich, es verliert sich - von Ausnahmetalenten mal abgesehen - nicht von heute auf morgen. Es ist bei mir, wie wohl vielen anderen auch, wesentlich dadurch gewachsen, daß man merkt, was so alles geht. Es geht sehr viel, von dem man als Anfänger gefühlsmässig überzeugt ist, dasses nicht gehen könne, allenfalls Profis mit irgendwelchen geheimen Tricks soetwas könnten. Bis man dann als Anfänger bei einer Ausfahrt mit routinierten Fahrern sieht, was so alles ganz einfach gehen kann. Man ahmt es nach. Bei mir war es eher so, daß ich in den Büchern gelesen habe, was man so alles machen kann. Man probiert eine Sache aus, die mit der Schräglage war der Anfang - letztlich ist es gleichgültig, wo man einsteigt. Wichtig ist der Einstieg an sich: sieh da, es geht ! Und dann habe ich allmählich die anderen "Praxistips" von Spiegel "abgearbeitet" - vom Schalten ohne Kupplung bis zum Innenknie.
In dem Maße, wie man kontinuierlich die "Maschinenbeherrschung" verbessert, lernt man auch die Maschine, das Gerät unter sich kennen. Ich meine damit nicht die Charakteristika des konkreten Motorrades - das ist ein anderes Thema - ich meine damit: man lernt, man er-fährt, wie es ist, ein Motorrad unter sich zu haben. Man entwickelt "feeling". Dieses Gefühl ist beim Anfänger von Mißtrauen und Angst geprägt - und von "statischen" Gewohnheiten. Wenn erstmals bei einer Kurvendurchfahrt der Asphalt auf einmal sehr nahe kommt, schlägt das Herz bis zum Hals: eine aufregende Sache. Ganz allmählich aber wird das zur Routine, und man erlebt, wie leicht doch die Bewegungen in der Schräglage sind. Weil man sich nämlich allmählich daran gewöhnt, daß auf den eigenen Körper nicht nur die Gravitation, sondern auch die Zentrifugalkraft einwirkt. So stark, wie man sich in die Kurve von der Fahrzeughochachse aus hineinlegt, könnte man sich auf dem stehenden,aufgebockten Motorrad niemals zu einer Seite lehnen - man würde runterplumpsen (und das Motorrad eventuell auf einen drauf). In der tiefen Schräglage der Kurve jedoch wird man von den Zentrifugalkräften gehalten. Deswegen ist auch beispielsweise der "Innenfuß" für den Halt auf dem Moped in der Kurve sekundär - wenn die Fußraste aufsetzt, und hochklappt, zieht man einfach das Bein an, und gut ist. Man fällt aber (für den Anfänger: erstaunlicherweise) nicht runter - man hält sich nur mit dem Arsch und dem "Aussenfuß" auf dem Gerät - und der Aussenfuß reicht, wie das hanging off zeigt, auch völlig aus. Eine für unser normales "Empfinden" von physikalischen Kräfte paradoxe Situation: eben weil wir von unserer Natur darauf eingerichtet sind, nur die Gravitation, und verhältnismässig geringfügige Beschleunigungen und Verzögerungen wahrzunehmen.
Das Erfahren dieser spezifischen physikalischen Bedingungen des Motorradfahrens, vor allem seiner hohen Eigenstabilität ist die Grundlage dieses Vertrauens. Bei den ersten Fahrversuchen meint der "absolute beginner", er müsste das Motorrad in der Vertikalen halten, balancieren - doch er stellt alsbald (hoffentlich!) fest: das brauch er garnicht, im Gegenteil: das Motorrad bleibt von ganz alleine in der Senkrechten - das ist die Initialzündung für dieses Vertrauen, und markiert nebenbei auch einen gefährlichen Bereich, in dem regelmässig immer wieder diese blöden "Umfaller" beim Anfahren oder Anhalten vorkommen: den "Kenterbereich", in dem sich beim Anfahren diese Eigenstabilität, die wesentlich aufgrund der Kreiselkräfte der sich drehenden Räder zustandekommt, noch nicht aufgebaut ist, oder umgekehrt beim Anhalten erst allmählich und dann ganz schnell nachlässt, schließlich einfach "weg" ist. Selbst und gerade erfahrenen Fahrern passiert es immer wieder: sie haben gerade 100 km der rasantesten Kurvenstrecken flott und elegant absolviert, halten an einem Rastplatz an - und kippen um, weil sie durch den "flow" im Gefühl dieser Eigenstabilität "gefangen" gewesen sind. Gottlob sind Umfaller, wenn man geeignete Schutzbekleidung trägt, in aller Regel glimpflich - selbst am Motorrad beschränken sich die Schäden häufig auf ein paar Kratzer.
Hat dieses Vertrauen in das "Physikalische System" des Motorrades einmal Platz gegriffen, erschließt sich dem Anfänger eine völlig neue Welt: es ist viel schöner, viel geiler, und auch: viel leichter, als man es sich gedacht und erwartet hatte. Es ist, wie wenn man beim Tanzen mit einem neuen Partner die Phase der Gewöhnung aneinander überwunden hat, und dann so richtig loslegen kann - die Strasse wird zum Parkett, auf dem man einen erstaunlich flotten Tango hinlegen kann mit seinem Gerät.
Gruß
Nacktzeiger