Ehrlich & Pragmatisch
Klar - sich mit Nerven, Anatomie und Sicherheit zu befassen IST wichtig und richtig.
Gerade die Auseinandersetzung mit Nervenverläufen artet jedoch oft in eine Pseudowissenschaft aus. Ich bin pragmatischer Natur, ich frage mich stets wie mein Mehrgewinn an Wissen mein Handeln verbessern kann. Und da muss ich ganz klar sagen, selbst wenn ich die Verläufe von radiali, ulnaris, mediales, peroneus usw kenne, auswendig nachzeichnen kann und in 3D im Model betrachtet habe (ich habe sie seinerzeit sogar mal im Präparier-Kurs freilegen müssen hab sie also von ganz nah gesehen), was für einen Zugewinn bringt mir das für mein Handeln beim Fesseln: So ziemlich gar keinen.
Warum? Weil:
a) die Nervenverläufe die ich da auswendig gelernt habe, habe ich alle nur in der sogenannten Neutral-Nullstellung des Körpers kennengelernt. Drehe ich einen Arm aber in sich ein und bewege ihn dann in einer "Faltbewegung" auf den Rücken, wie es für viele Oberkörperfesselungen geschieht, dann kann ich den Nervenverlauf schon nicht mehr so gut nachvollziehen, da sich natürlich auch Nerven mit Muskulatur, Bändern und Sehnen im Arm (und überall anders bewegen).
b) ich bin also genauso schlau wie vorher und weiß nun lediglich grob, welche Stellen ich mit Seil aussparen sollte um möglichst Risikovermeidend zu fesseln. Diese Stellen kannte ich auch bevor ich die Nerven lateinisch betiteln konnte, sie auswendig gelernt habe und mir in 3D angesehen habe.
Ich denke, dass sich viele Menschen mit ihrer Expertise über Anatomie brüsten um als besonders informierte und verantwortungsbewusste Rigger* dazustehen. Am Ende ist es aber vor allem praxisnahes und gut begründetes Fesselwissen, dass risikoreduzierend wirkt. Also Lehrer die einem genau erklären WELCHE Stellen WARUM gefährlich sind und WIE man da gute risikoreduzierende Lösungen findet.
Zudem: Welche "Symptome" kann ein sich anbahnender Nervenschaden haben? Wie unterscheidet sich das von Blutstau? Wieso sagt ein blau-lila eingefärbter Arm nichts über den Nervenstatus aus? Welche Handfunktionstests gibt es? Wie gelingt es mir, diese auch in z.B. Suspensions durchzuführen?
--> PRAXISORIENTIERTES WISSEN in der Praxis erprobt. Und aus der Empirie gelernt.
Natürlich schadet es niemandem sich theoretisch mit Nervenverläufen zu befassen, es wird seine Fesselpraxis jedoch auch nicht verbessern.
Zudem:
• in den meisten Videos - seien sie mit noch so viel Engagement verfasst - fehlt die Betrachtung von Schulter-, und Schulterblattflexibilität. Diese zu betrachten ist elementar um eine individuell zum Model und zur Fesselsituation passende Oberkörperfesselung zu finden, die Schultern und -blätter stabil in Position hält. Sehr oft sieht man Modelle hängen, mit weit hinten rausstehenden Schulterblättern, der ganze Oberkörper wird einer Kompression unterzogen, die unnatürlich und unergonomisch ist und und unter dieser Belastung geschehen Nervenkompressionsschäden deutlich schneller, weil die gesamte Haltung dies fördert.
• In den meisten Videos fehlt daher auch die Information wie unterschiedliche Hand/Armhaltungen (Low-, high, box-Hands) den Oberarm anders eindrehen, die Schultern in unterschiedliche Positionen bringen und damit einen Nervenverlauf besser oder schlechter versuchen zu Umfesseln.
--> Diese zuletzt genannten Faktoren sind wieder PRAXISORIENTIERTES Wissen, dass wirklich helfen kann, Unfälle zu vermeiden, und Modelle in Serie zu "produzieren" die Schulterschäden, Schmerzen sobald der Arm auf den Rücken genommen wird, usw. haben.
Dann müssten wir uns auch noch mit den Wirbelsäule befassen, hier vor allem mit dem HWS Teil - denn daher entspringen ja die Arm versorgenden Nerven. Und dann müssten wir schauen, dass bestimmte Halsseile unter starken Druck auf den Schulter-Nackenbereich ebenfalls verantwortlich für Nervenschäden sein können, Hair-Ties, Ruckartige Bewegungen in der Suspension usw.
Es gibt 1000 Einzelfälle, 1000 unterschiedliche individuelle Anatomien und wir haben kein MRT in den Augen mit dem wir Nervenverläufe scannen könnten. Ich plädiere daher eindringlichst dafür, sich praxisorientiert und handlungsorientiert mit anatomischem Wissen zu befassen, statt sich in der Theorie mit 3D Modellen und Verläufen zu befassen. Nochmal: Ich denke nicht dass das schadet, wenn du also Spaß dran hast: Go for it! Ich möchte aber anderen hier mitlesen sagen: Es muss nicht der Eindruck entstehen, dass man das alles wissen muss, die ganze Theorie pauken muss. Das ist nicht wahr.
Liebe Grüße