"Liebe als soziales Kunstwerk" von Dolores Richter
In dem kürzlich von mir hier rezensierten Buch "Soul-Sex" von Eva-Maria Zurhorst ging es im Wesentlichen um die Ablehnung des männlichen Begehrens, das nach Meinung der Autorin "die feine weibliche Lust" behindert. Nachdem ich das Buch gelesen hatte, fragte ich mich, ob ich mit meiner auf persönlicher Erfahrung fußenden Einschätzung, dass Frauen das männliche Begehren durchaus schätzen, völlig daneben lag und fragte bei einer Frau nach, bei der ich diverse Kurse und Seminare zum Liebesthema gemacht hatte und die ich für außerordentlich kompetent halte, wie sie das sähe. Hier ein Auszug aus ihrer Antwort:Das Zitat, das du von Barry Long bringst, zeigt aber auch in mir die andere Seite auf: es ist wie so oft, dass das Kind gleich mit dem Bad ausgeschüttet wird. Das Begehren ganz verdammen zu wollen, geht zu weit. Ich will diese feurige Kraft nicht missen und will keine neue Ideologie in meinem Bett. Ich halte es immer noch für sehr wesentlich, das Begehren also solches zu akzeptieren, zu nutzen und auf freudige Weise zu leben. Auch hier liegt eine geschichtliche Aufgabe.
Und diese Dolores Richter hat bereits 2006 ein Buch über die Liebe geschrieben, das ich hier vorstellen möchte:
Liebe als soziales Kunstwerk
Normalerweise rezensiere ich Bücher, die von den Verlagen zur Verfügung gestellt wurden. Dieses hier habe ich gekauft. Es ist auch in keinem etablierten Verlag erschienen, sondern quasi im erweiterten Selbstverlag der Autorin als print-on-demand. Bei solchen uneigennützigen Projekten kenne ich mich aus, da wäre es schnöde gewesen, ein Rezensionsexemplar zu verlangen.
Also, noch ein Buch über die Liebe? Ja, noch eins, und zwar eins, das ganz neue Akzente setzt.
Auf Seite 83 zitiert Dolores Richter Osho, aber das Zitat könnte auch am Anfang als Losung für das ganze Buch stehen: „Romantische Ideen sind gefährlich. Sie sind ein Teil der neurotischen Gesellschaft. Eine lieblose Gesellschaft malt Bilder von der romantischen Liebe. Es ist ein Teil des Spiels: Erst mache die Leute lieblos, und dann gib ihnen Ideale, die sie nicht erfüllen können. So werden sie immer in der Luft hängen. Ohne Liebe leiden sie und mit Liebe auch – nur das Leiden ist sicher.“
Wir wissen es aus unserem direkten Umfeld und bekommen es bestätigt in den Internetforen und in den Büchern der Paarberater: unser westliches System der romantischen Liebe ist eine ewige Quelle des Unglücks. Wir verlieben uns, weil wir meinen, die eine Person gefunden zu haben, die uns bestimmt und für uns die richtige ist und empfinden es als Wunder. „Ein Teil davon ist aus dem eigenen Wunschbild geboren“, schreibt Dolores Richter, „ein anderer Teil ist die Projektion.“ Dieses Wunder bewirkt „ein riesiges Glücksgefühl. Und nicht wenige kennen nur diese Form der Liebe, die sie immer und immer wieder von neuem wiederholen. Man kann tatsächlich süchtig werden danach.“
Wenn der Rausch vorbei ist, stellen wir fest, dass wir den Menschen gar nicht gekannt haben, sondern nur, dass er unsere Erwartungen doch nicht erfüllt. Oder aber ich erkenne diesen Menschen und akzeptiere ihn in seinem So-Sein. Dann liebe ich ihn. „Und du bist erstaunt darüber, wie der Geliebte durch die gewonnene Freiheit beginnt, dir lang gehegte Wünsche zu erfüllen, an deren Einlösung du schon fast nicht mehr geglaubt hast. Damit meine ich die Freiheit, die entsteht, wenn er nicht mehr unter dem Druck meiner Erwartungen steht. – das gilt ganz stark auch für den sexuellen Bereich.“
Sexualität und Freiheit in einem Atemzug zu nennen, ist verdächtig. Da hat diese romantische Gesellschaft nervöse Antennen. Da wird Subversives vermutet, da wird schnell ein Feindbild konstruiert. Dolores Richter weiß ein Lied davon zu singen. Sie lebt in einer Gemeinschaft, die einmal mit dem Slogan der Freien Liebe auf den Fahnen angetreten ist und dafür viel Prügel und Anfeindung einstecken musste.
Ich habe selbst einmal erfahren, wie gefährlich dies ist. Ich hatte einer früheren Geliebten geraten, sich für eine Zeit einen anderen Liebhaber zu nehmen, was sie auch tat, mir aber vorwarf: „Gib einem Liebenden Freiheit und du tötest ihn.“ Damit machte sie sich zum Spiegelbild der von Osho beschriebenen neurotischen Gesellschaft.
Es ist sicher auch nicht ganz falsch, dass die erwähnte Gemeinschaft, die sich vor über zwanzig Jahren unter der Bezeichnung Zentrum für experimentelle Gesellschaftsgestaltung (Zegg) in der Nähe von Berlin etablierte, die Idee der Freien Liebe orthodoxer proklamierte und lebte als das heute der Fall ist.
Heute haben sich zu den alten Idealen Pragmatismus und Reife gesellt und Dolores Richter schreibt nun: „Ein Mensch, der liebt, ist schön und wird natürlicherweise auch von anderen Menschen geliebt. ... Anziehungspunkte außerhalb der Beziehung nähren. Wenn man dabei ist, sich kennen zu lernen, wird man eine Zeit lang wenig auf die anderen Anziehungspunkte schauen. Aber man sollte wissen, dass sie ins Blickfeld geraten werden – und sich darauf vorbereiten, sie willkommen zu heißen. ... Das gilt auch für frühere Liebespartner.“
Das ist ein ganz wesentlicher Punkt. Wer seinen Partner ohne seine emotionale und erotische Vergangenheit lieben will, muss scheitern. Die Integration derselben hingegen wird sich als Schatz herausstellen. „Ich verlasse nicht mehr“, schreibt Dolores Richter und meint speziell auch die früheren Lieben, die in ihrem Herzen bleiben dürfen.
Nun kommen viele ins Zegg, um sich an der Idee der Freien Liebe zu berauschen und dann heim fahren und „voller Begeisterung alle alten Formen über Bord werfen“, ein vorschnelle Reaktion, „die nicht aus dem eigenen Wissen kommt. Sie stürzen sich nicht in die freie Liebe, sondern in ein Chaos von verwickelten Mehrfachbeziehungen, oder sie reiten auf einem unverbindlichen sexuellen Konsumtrip.“ Sie verwechseln freie Liebe mit grenzenlos promiskem Sex.
Dolores Richter spricht sich für eine Verlangsamung aus. Denn: „Freie Liebe ist der Beginn eines Weges. Es ist ein Studium des Lebens und dauert das ganze Leben. Und zu Beginn des Weges ist es sinnvoll, nur diejenigen Schritte zu tun, die ich in meinem Stand des Wissens verstehe und richtig finde, die ich in Vertrauen und mit ganzem Herzen tun kann.“
„Mische dich nicht in die Freiheit des anderen ein.“ Das ist wieder von OSHO. Die meisten Menschen, die von freier Liebe reden, meinen ihre eigene Freiheit, zu tun, was sie wollen. Das Wesentliche ist jedoch, die Freiheit des anderen zu respektieren. Ich habe am eigenen Leibe erfahren, wie weit da Anspruch und Wirklichkeit auseinander liegen können. Eine frühere Geliebte von mir, Osho-Schülerin und sogar Sanyassin, war die Apologetin der Freien Liebe, raste jedoch vor Eifersucht, als ich beim Tantra einmal mit einer anderen Frau zusammen kam.
Dieses Buch ist der Zusammendruck der Transskripte von sieben Reden, die die Autorin bei diversen Tagungen und Workshops im Zegg gehalten hat, was auch erklärt, warum gewisse Gedankenelemente mehrfach vorkommen.
Es ist ein unerhört engagiertes Buch, das eine heiße Liebe zur Liebe und zum Leben spüren lässt. Sehr lesens- und bedenkenswert. ©Tilmann55
134 S. paperback, edition zeitgeist, Verlag Freimut & Selbst, Berlin 2006, ISBN 9-937378-10-3. € 12,80