@Galinthias:
Für mich war mein Großvater immer der Tischler, der Mann der mir Wassereis gab und der mich halt mit seinem Mofa durch die Gegend fuhr! Er lebte im dunkelsten Ostfriesland, und ich habe ihn sehr geliebt! Aber er war für mich nie eine reale Person mit eigener Lebensgeschichte, ich wusste nicht einmal dass er das Haus selbst gebaut hatte, in dem ich dort quasi meine ganze Kindheit verbracht habe... Er war halt Opa...
Zu einem "ganzen" Menschen wurde er für mich erst sehr viel später, in drei Stufen:
Das erste Mal als ich zwölf war, und er starb. Ich fand diese besagte Karte, und bekam von meinem Vater erklärt dass Opa halt im Krieg war, und die Karte wohl aus der Gefangenschaft kam! Ich wusste damals nicht mal warum, aber es war mir unendlich wichtig sie behalten zu dürfen... Wie gesagt, darauf waren nur zwei Hunde, ein bisschen Glitzer, ein aufgedruckter englischer Weihnachtswunsch. An sich wirklich armselig, aber mehr gab es im Lager wohl nicht zu kaufen...
Jahre später, ich muss schon Mitte 20 gewesen sein, nahm ich diese Karte aus mir immer noch unbekannten Gründen mal wieder aus dem Rahmen in den ich sie gesteckt hatte, und entdeckte zufällig dass man sie nicht nur einmal, sondern
zweimal aufklappen konnte. Das war mir vorher nie aufgefallen, denn sie war ja schon alt und brüchig, ich war also immer sehr vorsichtig mit dem einzigen Andenken an Opa gewesen. Und da sah ich, das in dieser Karte ein kurzer Brief an seine Familie war, den ich vorher noch nie bemerkt hatte, in seiner Handschrift, die ich überall und jederzeit wiedererkennen würde. Ich schwöre Euch, ich habe stundenlang geheult...
Vor ein paar Jahrens starb dann auch meine Oma, und mein Vater sammelte alle Fotoalben ein, damit sie nicht innerhalb der Familie wild verteilt werden würden. Sie lagen ewig lange in einer Kiste rum, und dann hatte ich vor ein paar Wochen die Aufgabe sie alle zu scannen, damit alle Familienmitglieder die Bilder bekommen können! Und dort fand ich zum ersten Mal ein Album, dass mein Opa selbst angelegt hatte! Mein Großvater mit 17 Jahren auf einem Passfoto, Hoffnung im Blick, dann wenig später in seiner Wehrmachtsuniform, die Mütze schief auf dem Kopf, das Lächeln unsicher! Und dann ein Bild, dass er seiner Familie aus der Gefangenschaft geschickt hatte...
Und DA habe ich ihn das erste Mal so wirklich als ganzen Menschen wahrgenommen, und nicht nur als Opa! Ich fand andere Fotos, und erfuhr dass er sein Leben lang Motorradfahrer war. Das Mofa, dass ich kannte, war nur das letzte Glied in einer langen Kette von Motorrädern, und sein Kompromiss, als er zu alt für normale Bikes wurde... Plötzlich konnte ich mir vorstellen, wie dieser Junge, der auf den Fotos zwanzig Jahre jünger war als ich es jetzt bin, eingezogen worden war! Wie er litt, gefangen genommen wurde, Angst hatte... Mit dem nackten Leben davon gekommen, noch nicht wissend was ihn in der Zukunft erwarten würde...
Was ich sagen kann ist dass er einen Haufen Kinder bekommen hat, ein Haus baute, jede Menge Enkelkinder hatte und von mir abgöttisch geliebt worden war! Aber einmal im falschen Moment den Kopf hochgestreckt, einen Moment lang nicht aufgepasst, eine falsche Bewegung, und er wäre tot gewesen... Und all das, seine Kinder, das Haus, MICH, all das hätte es nie gegeben...
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Die andere Seite der Familie, mütterlicherseits, hat eine ganze andere Geschichte, aber mein Großonkel gehört, wie ich selbst auch, einfach nicht dazu! Mein Großonkel war wie gesagt ein Suchkind, und war jahrelang von seiner Familie getrennt! Als er sie dann wiederfand gab es bereits eine Kluft, die sich wohl erst in den letzten paar Jahren wieder schloß! Denn während er sehr unter seinen Erfahrungen litt, und sie irgendwann um das Jahr 2000 herum mal aufschrieb, wollte sonst niemand mehr mit ihm darüber reden... So blieb er ein Leben lang ein Aussenseiter in dieser Familie, und das merkte man auch bei dem Familientreffen! Ich habe meine eigenen, sehr unschönen Gründe, warum ich keinen Bezug zu irgendjemandem in dieser Familie habe, und so saßen wir beide da zusammen, Ausgestossene. Keiner sprach mit uns, keiner hörte uns zu. Denn wir bohren in den Wunden, stellen Fragen und wollen verstehen, das möchte dort sonst niemand... Deswegen konnten wir auch so gut miteinander, und deswegen weinte er auch so, denn ich bin der einzige in diesem Teil der Familie der ihn fragt wie es alles war, und wie es ihm damit ging/geht...
Es gibt eine Fernsehdokumentation über ihn, falls es jemanden interessiert werde ich hier gerne den Link posten...