Roger Willemsen
Buchrezension: WER WIR WAREN Zukunftsrede
von Roger Willemsen, S. Fischer-Verlag, 59 Seiten, 12 Eur.
Buchhandlungen, nicht der Online-Versand, sondern die kleinen und großen Räumlichkeiten zum Anfassen und Riechen, sind dazu da, dass man über Bücher stolpert.
Über diese kleine Schrift des begnadeten Medienmenschen, Autors, Interviewers, Feuilletonisten, wachen und engagierten Zeitgenossen Roger Willemsen bin ich gestolpert, gerade weil man ihn so leicht nicht vergisst: der, der 2016 gestorben ist. Diese Essay erschien posthum, eine kleine Essenz seines letzten Buchprojekts, dass er wegen seiner Krebserkrankung nicht mehr ausführen konnte. Das hinterlässt beim Lesen eine leise Wehmut, und eine stärkere für den, der ihn auch persönlich gekannt und geschätzt hat. So jemand wie Roger Willemsen fehlt in der deutschsprachigen Kulturlandschaft.
Als sein letzter Aufruf kreisten seine Gedanken um die Zukunft, die er nicht mehr würde erleben können.
Zukunft also! Im Modus des Futururums II: „Ich werde gewesen sein“ Mit Glanz und Irrtum jeder Zeit. Es waren nicht die Geringsten, jedoch auch nicht die Größten in der Menschheitsgeschichte, die sich einfältig in der Beurteilung der Zukunft irrten.
Und mit des Autors feinem Gespür für Humor nennt er eingangs kleine Aporien prophetischer Fehleinschätzungen, die, wären die Zeitgenossen diesen gefolgt, uns noch heute auf Bäumen sitzend entgangen wären:
„In einem Mercedes Simpex sitzend, sagte Kaiser Wilhelm II. 1904: >Das Auto hat keine Zukunft. Ich setze auf das Pferd<.“ oder:
„Nichts anders im Fall von Computern: >Ich denke, dass es einen Weltmarkt für vielleicht fünf Computer gibt<, so Thomas Watson, CEO von IBM, 1943.
Wir wissen und sehen heute, es kam ganz anders. Die Herren, die sich anschickten, die Welt zu beherrschen, waren auch nicht besser als die Zeugen Jehovas, die regelmäßig sich mit dem Datum des Weltuntergangs verzettelten.
Willensem begeht den Fehler nicht. Im Blick auf die Zukunft bleibt er bei der Analyse der Gegenwart, so, wie er sie als scharfer Beobachter, als Multitalent des Jetzt wahrnimmt und die richtigen Fragen stellt: „Das Selfie, die autoerotische Verfielfältigung, die Filialexistenz – ist das die Zukunft des Ich?“
Und wer sind und waren wir eigentlich?
„Wir waren jene, die wußten, aber nicht verstanden, voller Informationen, aber ohne Erkenntnis, randvoll mit Wissen, aber mager an Erfahrung. So gingen wir, von uns selbst nicht aufgehalten.“
Dem kann man zustimmen oder nicht, jedenfalls sollte man seine letzte These nicht einfach ignorieren.
Dafür war er ein zu brillanter Denker und Zeitgenosse, der beides konnte, die Perspektive von ganz oben durch seine Bildung und Vielbelesenheit, und die Perspektive von ganz unten, wenn er sich für die Ausbildung afghanischer Mädchen engagierte und jedem Zeitgenossen, gleich wer er war und zu sein vorgab, mit aufmerksamer Gespanntheit zuhörte.
Dieses kleine Büchlein ist unbedingt zu empfehlen für jene, denen die Widersprüchlichkeiten und Zerissenheit der Gegenwart nicht am „Arsch vorbei“ geht. Denn Gleichgültigkeit und Lethargie war Willemsens Sache nicht.
Ich bin sicher, meine letztere, etwas ungehobelte Formulierung in Anführungszeichen hätte er gebilligt und lächelend kommentiert.
©Dreamy2018