Zeit der Zauberer - Das große Jahrzehnt der Philosophie
Normalerweise hält man Philosophenpersönlichkeiten, wenn sie nicht gerade in einem Lehrer-Schüler-Verhältnis zueinander stehen, fein säuberlich auseinander. Was könnte ein Ludwig Wittgenstein, ein Martin Heidegger, ein Ernst Cassirer oder Walter Benjamin gemeinsam haben, außer dass sie die philosophischen Zauberer des 20. Jahrhunderts waren, und der eine mehr, der andere weniger, prägend für die darauf folgende Philosophengenerationen wurden?Ich hätte getippt: gar nichts.
Der eine, Ludwig Wittgenstein, Milliardärssohn aus Wien, stets suizid gefährdet, Multitalent, wird, ausgewandert nach England, der Vater der analytischen Sprachphilosophie, die bis heute die angelsächsische Forschung in der Philosophie prägt.
Martin Heidegger, der Meßnersohn aus dem Schwarzwald, wird sich früh dem Nationalsozialismus und deren Antisemitismus andienen als Hausphilosoph, trotzdem ein außereheliches Verhältnis mit der Jüdin und seiner Schülerin Hannah Ahrendt unterhalten und eine neue Art der Ontologie (Seinslehre) entwickeln. Zugleich wird er einer der Begründer des Existenzialismus werden. Ernst Cassirer, der Ältere in dieser Gesellschaft, ist dagegen so bieder und bürgerlich, aber kulturphilosophisch tief gelehrt und geprägt von Kant und Goethe, dass es jedem Studienrat die Tränen in die Augen treibt bei Lektüre seiner Schriften. Und Walter Benjamin, der jüdische Sohn eines Berliner Kunsthändlers kommt bei der Vielfalt seiner Interessen, nie richtig zu Potte, unterhält zeitaufwendig mehrere polyamore Beziehungen, und wenn er was schreibt, so ein Vorwort über die Tätigkeit des Übersetzen, wird diese theoretische Abhandlung gleich zu einer Art Fundament der Sozialwissenschaften und der Übersetzertätigkeit. Alle vier sind Überflieger, wenn auch nicht als solche sofort erkannt.
Wolfram Eilenberger, langjähriger Chefredakteur der Zeitschrift "Philosophisches Magazin" bietet in seinem neuen Buch "Zeit der Zauberer - das große Jahrzehnt der Philosophie 1919 - 1929" ein gar zauberhaftes Buch über die vier sehr unterschiedlichen Philosophen zu jener Zeit in Cambridge, Wien, Freiburg, Hamburg und Berlin und fragt nach Gemeinsamkeiten. Bis auf Cassirer waren alle zunächst höchst schräge und unkonventionelle Persönlichkeiten; Wittgenstein war ein nervöses Bündel in seinen Vorlesungen, Heidegger erschien in kurzer Lederhose, Sandalen und merkwürdig orientalischem Käppi im Seminar, und entwickelte eine eigene Fachsprache, so dass Studenten sich erst einarbeiten mussten, um ihn überhaupt zu verstehen. Das ist noch heute so, wenn man sich in seine Schriften einliest. Benjamin war dauernd pleite, was ihn nicht hinderte auf großem Fuß zu leben.
Das alles erzählt Eilenberger nebenbei in lockerer, amüsanter Diktion und so nebenbei führt er in deren Philosophien ein. Sie alle fragen nach der Stellung des Menschen in dieser neuen Zeit der dauernden Veränderungen und der dynamischen Entwicklungen. Was ist der Mensch wert, wenn er in der Maschinerie des Krieges, der Industriegesellschaft, des Massenelends und der Massenbewegungen als Individuum unterzugehen droht? Wenn er als Mensch, als DER Mensch wenig oder kaum etwas wert ist, wenn er aus dem Zentrum des Universums gerückt ist, wenn es keinen Gott geben sollte, der ihn wertschätzt und wenn die Philosophie, das Nachdenken über den Menschen, in der Hysterie der Zeit wie ein Geschwätz am Rande verkommt. Gemeinsam ist den vier Heroen auch die Radikalität des Fragens, frei von gesellschaftlichen Normen, von den kirchlichen Vorgaben (Wittgenstein und Heidegger waren katholisch, Casierer evangelisch, Benjamin jüdisch - und kommen doch alle vom Religionsthema nie ganz los). Frei sollen sie auch sein von der philosophischen Tradition, aus der sie zwar schöpfen, aber durch die sie sich nicht binden wollen. Wittgenstein wird in seinem logischen Traktatus nicht einen wissenschaftlichen Verweis unterbringen, undenkbar damals, noch undenkbarer heute. Trotzdem wird dieser Traktat später als Doktorarbeit anerkannt, um dem verstörten Wiener, der als Genie galt, wenigstens ein Stellung an der Uni zu verschaffen. Zuvor hatte er sein ganzes Millionenvermögen teilweise verschenkt, teilweise seinen Geschwistern überschrieben, weigert sich aber hartnäckig, sich von ihnen aushalten zu lassen. Seine Doktorväter regeln das für ihn.
Wer also gut unterhalten werden will und zugleich etwas über die Philosophie des 20. Jahrhunderts erfahren möchte, dem sei Eilenbergers Buch wärmstens empfohlen über jene Zauberer.
Als ich den Titel las, dachte ich übrigens an einen ganz anderen, den sie zu derselben Zeit "Zauberer" nannten: Thomas Mann, der mit seinen "Buddenbrocks" den Literaturnobelpreis zuerkannt bekam. Die Zwanziger Jahre - nach dem 1. Weltkrieg - waren in dieser Hinsicht tatsächlich golden auf vielen Gebieten: die erste Republik, die dann im Brutalismus des Nationalsozialmus ihr Ende fand.
Wolfram Eilenberger, Zeit der Zauberer. Das große Jahrzehnt der Philosophie, 1919 - 1929, Verlag Klett-Cotta 2018, 429 Seiten, 25 Eur
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