T. C. Boyle – „America“
Ein Fehler wäre es, nur wegen des Themas vorschnell abzuwinken und zu denken: „Nein, darüber brauche ich nicht auch noch zu lesen, damit werden wir schon tagtäglich in den Medien konfrontiert!“ T. C. Boyles „America“ dreht sich in der Rahmenhandlung nämlich darum, dass ein gut situierter US-Amerikaner einen illegal eingereisten Mexikaner anfährt und der stark Verletzte – abgespeist mit einer Handvoll Dollar Schmerzensgeld – sich schnell wieder aus dem Staub macht. Dieser Unfall ist allerdings nur Auftakt zu einem fesselnd und detailliert formulierten, realitätsnahen Roman. Er beschreibt mitreißend nicht nur, wie zwei Schicksale zufällig mit einander verknüpft sind, sondern auch wie auf einmal die „3. Welt“ an vielen Stellen mit kleinen Schritten in die „1. Welt“ einsickert. Boyle zeigt anhand eines wie unter einem Brennglas beobachteten Mikrokosmos Welten, die konträrer nicht sein könnten: Auf der einen Seite eine weiße Gesellschaft zwischen ökobewußtem Gutmenschentum und mehr oder weniger offen zu Tage tretendem Rassismus, die vehement auf Bewahrung ihrer Pfründe pocht; auf der anderen jene bis zur Erschöpfung sich verausgabenden und meist ausgenutzten Underdogs, die sich ein besseres, menschenwürdigeres Leben ersehnen. Es ist ein offensichtlich hoffnungsloser (Überlebens)Kampf zwischen Arm und Reich, für den selbst das Bauen einer Mauer samt Wachpersonal um die „gated community“ nicht die vermeintliche Lösung ist, um die vermeintliche Bedrohung durch Abschottung zu sichern.
Das Buch zieht den Leser von den ersten Seiten an in seinen Bann. Es macht vielfach betroffen und sorgt dafür, eigene Sicht- und Denkweisen zu hinterfragen. Auslöser dafür ist folgender Umstand: Die Erlebnisse und Empfindungen der Protagonisten, ihre Wünsche, Träume, Hoffnungen, Glaubenssätze, Befürchtungen, emotionalen Zustände in ihren individuellen gesellschaftlichen Milieus, aber auch die sich schleichend verändernden Perspektiven werden ebenso prägnant wie authentisch geschildert. Dies lässt das Agieren und die Emotionen der handelnden Personen stets sehr gut nachempfinden!
„America“ ist zwar schon 1995 erschienen, doch – gerade in Zeiten eines indiskutablen Herrschertypen wie Donald Trump samt seiner republikanischen Vasallen – von erschreckender Aktualität!