Kathrin Aehnlich - Alle sterben, auch die Löffelstöre
Hab schon lange keinen so erfrischenden Roman mehr gelesen, auch wenn die Thematik eigentlich traurig ist.
Paul ist gestorben.
Wie es dazu kam, und wieso die beiden Protagonisten, Paul und Skarlet, obwohl sie als Kinder so unzertrennlich waren, dann doch jeweils jemand anderen geheiratet haben und wie es ihnen damit ging, wird dem Leser erst so nach und nach entdeckt. Die Autorin flicht ein kunstvolles Netz aus aufsteigenden Erinnerungen an Paul, Rückblenden (Tante Edeltraud, die gefürchtete Kindergartentante, findet sehr oft Erwähnung ...) auf die Kindheit und Jugend, während Skarlet mit Judith, Pauls Ehefrau, den Sarg gelb bemalt und ansonsten ihrer Arbeit im Zoo nachgeht. Puzzleteil um Puzzleteil wird eingefügt und mit der Zeit erst wird das Ganze zu einem klar erkennbaren Bild.
Der Stil ist flott und witzig, ohne ins Sarkastische abzugleiten, und die Komposition perfekt. Große Literatur ohne Gähnen und auf-die-Uhr-schauen. Bestnote!!!
Textauszug:
Wochenlang hatte sie Paul nicht gesehen, Wochen in denen er im Krankenhaus gelegen hatte, allein in einem abgedunkelten Zimmer, und niemand außer Judith ihn besuchen sollte. Und dann, als er seine selbstgewählte Einsamkeit aufheben wollte, hatte Skarlet den Besuch immer weiter hinausgezögert. Sie konnte sich Paul nicht krank in einem Bett vorstellen. Der Gedanke, ihn hilflos zu sehen, war ihr unangenehm. Sie dachte, daß es ihm peinlich sein müßte, und sie wußte nicht, wie sie beide diese Peinlichkeit überstehen würden.
Sie hatte viel über die Veränderungen nach einer Chemotherapie gehört und gelesen und versucht, sich Paul ohne Haare vorzustellen und ohne Bart. Und sie hatte sich vorgenommen, nicht zu erschrecken. Sie wollte einfach in das Zimmer hineingehen, tun, als wäre sie erst gestern dagewesen und rein zufällig noch einmal vorbeigekommen.
Und dann stand sie vor dieser Tür und mußte sich zwingen anzuklopfen. Sie war erleichtert, als sie Pauls Stimme erkannte. Und sie trat ein, und sie erschrak nicht. Sie konnte nicht erschrecken, denn es war nicht Paul, der in dem Bett lag, es war ein Außerirdischer, ein Außerirdischer mit grünschimmerndem Gesicht, mit einer Haut aus Papier, die sich über die Wangenknochen spannte. Der Außerirdische hatte keine Haare, keinen Bart, nicht einmal Augenbrauen, und dort wo der Mund sein sollte, war ein schmaler weißer Strich.
Setz dich, sagte die Stimme von Paul.