Ich hab heute mit diesem angefangen.
Als die Engel auf die Welt kamen, jubelten die Menschen. Sie waren glücklich und glaubten an das Versprechen der Erlösung von all ihren Sünden. Aber die Engel hatten nie vor, uns von irgendwas zu erlösen, sie riegelten Venedig vom Rest der Welt ab und warfen uns in mittelalterliche Zustände zurück. Damals war ich zehn. Ich weiß nicht, was mit dem Rest der Welt geschah, aber ich vermute, dass es dort ähnlich zuging. Erfahren werde ich das nie. Flugzeuge, Fernsehen, Telefone – all das gibt es nicht mehr. In den ersten drei Jahren ihrer Herrschaft bekämpften die Engel uns erbittert. Für sie sind wir ein Fehler im göttlichen Schöpfungsplan und es nicht wert, die Erde zu bevölkern. Wir sind weder so stark wie sie noch so klug oder so schön. Wir können nicht fliegen und noch nie stand einer von uns Gott von Angesicht zu Angesicht gegenüber. Deshalb behaupten sie, wir wären nur ein Irrtum. Unzählige Menschen starben nach der Invasion in den Straßen Venedigs. Das Wasser der Kanäle färbte sich rot vom Blut der Toten. In dieser Zeit ließen unsere Eltern meine Geschwister und mich nicht vor die Tür. Wir lebten versteckt in der Libreria Marciana, direkt gegenüber des Markusdoms. Von unseren Fenstern aus konnten wir beobachten, wie die Engel die Kuppeln des Doms zerstörten und in seinem Inneren eine Arena errichteten. Nun wurden die Menschen nicht mehr in den Straßen abgeschlachtet, sondern auf geweihtem Boden – zur Belustigung der Engel und jener Menschen, die die Schandtaten der göttlichen Heerscharen viel zu schnell vergaßen. Der Erzengel Gabriel ließ unseren Vater erschlagen, als dieser ihn bat, die Menschen mit mehr Gnade zu behandeln. Viele seiner Freunde waren bis zu diesem Zeitpunkt bereits in der Arena getötet worden. Gelehrte, Künstler, Ärzte. Alles Männer und Frauen, die keine Chance gegen die Krieger der Engel gehabt hatten. Gabriels Schergen jagten Vater aus dem Dogenpalast und trieben ihn durch Venedigs Gassen, bis er zusammenbrach. Sein ganzes Leben hatte er dem Wissen um die Engel gewidmet, war besessen von ihnen gewesen. Er hatte gehofft, Dispute mit Raphael oder Gabriel über die Schöpfung führen zu können. Aber die Engel hatten kein Interesse an Gesprächen. Als er starb, war ich dreizehn Jahre alt. Nach Vaters Tod begann meine Mutter damit, mir Unterricht im Schwertkampf zu geben. In einem Raum der Bibliothek lehrte sie mich, gegen die Engel zu kämpfen und meine Geschwister zu verteidigen. Sie war unerbittlich. Egal, wie sehr meine Muskeln schmerzten, wie müde ich war und wie oft ich sie anflehte, mich essen oder trinken zu lassen. Bevor ich mein tägliches Kampfpensum nicht erledigt hatte, gab sie nicht nach. Sie ließ mich auf einem Bein durch alle Räume und über jede Treppe der Bibliothek hüpfen. Sie band mir wochenlang den rechten Arm auf den Rücken, damit ich lernte, mit dem linken genauso perfekt zu kämpfen. Sie zwang mich, mitten in der Nacht und bei Neumond durch den Canale Grande zu schwimmen. Mutter trainierte mich bis zu dem Tag, an dem ich sie besiegte und ihr mein Schwert an die Kehle setzte. In derselben Nacht verschwand sie und ließ nichts zurück als einen Brief, der die Aufforderung enthielt, auf meine Geschwister achtzugeben und sie mit meinem Leben zu beschützen. Das war einen Tag nach meinem fünfzehnten Geburtstag. Über drei Jahre ist dieser Tag jetzt her. Drei Jahre, in denen ich einmal in der Woche einem Engel gegenüberstehe und gegen ihn kämpfe. Dass ich immer noch lebe, ist im Grunde ein Wunder.