Dirk Oschmann - Der Osten: eine westdeutsche Erfindung
Erschienen im September 2024, Ullstein Verlag, TB kapp 13 Euro, 221 SeitenDirk Oschmann beschäftigt sich mit dem Sachverhalt, dass 35 Jahre nach dem Mauerfall immer noch nur sehr wenige Menschen aus den ostdeutschen Bundesländern in Spitzenpositionen vertreten sind – und zwar bezogen auf Wissenschaft, Wirtschaft und Verwaltung bundesweit. Benachteiligte dieses "Macht-, Herrschafts-, Besitz-, Lohn-, Renten-, Erbschafts- und Diskursgefälles" sind immerhin 18% der deutschen Bevölkerung. Er behandelt das Stereotyp des Ostdeutschen und analysiert die damit verbundenen „Implikationen, Diskreditierungen, Vorurteile, Abwertungen und Ausschlussmechanismen“. In seiner Rolle als Leipziger Literaturprofessor richtet er in einem der 9 Kapitel auch einen Blick Kunst in Wort und Bild und den unterschiedlichen Umgang mit den Werken Kunstschaffender in Abhängigkeit von ihrem Herkunftsort.
Als einen der historischen Gründe, die einem gemeinsamen, gesamtdeutschen Bewusstsein im Wege stehen, führt der Autor die versäumte Chance an, mit der Wiedervereinigung gemeinsam eine neue deutsche Verfassung (Art. 146 GG) zu gestalten. Stattdessen ist der Osten dem Westen "beigetreten".
Das Buch erinnert, dass nach der Wende Zeitungsverlage und regionale Medien "vom Westen übernommen" wurden, dass die Amerikaner den westdeutschen Wiederaufbau förderten, während die Bevölkerung im Osten mit Reparationen an die Sowjetunion belastet wurde - also unterschiedliche Rahmenbedingungen bestanden, die es zu überwinden galt.
Der Schwerpunkt des Buchs behandelt allerdings nicht die Vergangenheit. Es befasst sich mit der Gegenwart und dem, was überwunden werden muss, damit ein gesamtdeutsches Bewusstsein entstehen kann. Dirk Oschmann behauptet nicht nur, sondern führt konkrete und nachvollziehbare Beispiele an. An viele wird man sich erinnern und dabei selbst Irritation verspürt haben. Dazu gehört beispielsweise, dass die „dem Osten“ zugeschriebene AfD in ihrer Führungsebene überwiegend von Westdeutschen repräsentiert wird.
Der Autor fordert ein Ende der Unterrepräsentanz von Ostdeutschen in gesellschaftlich und wirtschaftlich relevanten Positionen, Chancengleichheit und ein Ende einer innerdeutschen geographischen Diskriminierung.
Oschmann schreibt, er sei mit seinen Ausführungen Vorwürfen ausgesetzt gewesen, dass seine Veröffentlichung die Gräben zwischen Ost und West vertiefe. Dabei ist sein Buch in einem Ton geschrieben, dass man sich - sofern man nicht Mitglied einer westdeutschen Elite ist - schwerlich angegriffen fühlen kann. Nach meiner Lesart handelt es sich bei diesem Buch um eine Einladung zu mehr Aufmerksamkeit und fairem Umgang.
Mein Fazit:
Ich fand die Lektüre informativ und stellenweise sogar unterhaltsam, obwohl sie sich mit einem gesellschaftlichen Missstand befasst. Für mich ist das Buch zudem ein gelungenes Beispiel dafür, dass sich gesellschaftspolitisch relevante Themen auch in nichtakademischer Sprache transportieren lassen.