Anatomie einer Affaire
Original: The Forgotten Waltz
Autorin: Anne Enright
Ich war auf das Buch neugierig geworden durch die begeisterte Empfehlung eines Mit-JC'lers (merci, Pyrrhon!) und bin nicht enttäuscht worden. Die irische Schriftstellerin Anne Enright hat bereits für den Vorläufer The Gathering/Das Familientreffen den begehrten Booker-Preis gewonnen (ich habe ihn noch nicht gelesen, werde das aber schleunigst nachholen) und fällt mit diesem hervorragend geschriebenen Roman wieder angenehm auf. Den deutschen Titel finde ich übrigens - und das ist selten genug - viel gelungener als den O-Titel, denn es geht in der Tat um das Sezieren einer Liebesbeziehung, bei der man sich am Ende des Buches die Frage stellt, ob sich all der Aufwand, die Zerstörung und die Neuordnung denn nun gelohnt haben.
Die Geschichte einer Affaire der verheirateten Gina Moynihan mit dem Familienvater Séan Vallely ist so alt ist wie die Menschheit: Ein Mann und eine Frau begegnen sich, verbringen während einer Fortbildung eine Nacht miteinander. Nichts besonders, alles schon mal dagewesen – der raffinierte Kunstgriff mit den Songtiteln als Kapitelüberschriften unterstreicht das Gewöhnliche der Situation.
So weit, so gut. Bei der „Sex in the City“-Nummer hätte es bleiben können, doch Gier und Fleischeslust aufeinander lassen die beiden ihre Affaire aufrecht erhalten. Schließlich fliegen sie auf. Evie, Séans Tochter, entdeckt sie beim Neujahrskuss, ohne das Gesehene zunächst richtig einordnen zu können. Peu à peu dämmert es auch den betrogenen Ehepartnern, Familienmitgliedern und Nachbarn... von deren Beziehungsgeflecht Gina, die Spezialistin für IT-Kommunikation, abrupt abgetrennt wird. Während ihr Lover längst wieder auf Freiersfüßen wandelt, sitzt sie allein – manchmal mit Evie, wenn niemand anderes Zeit hat, die Kleine abzuholen - im unverkäuflich gewordenen Haus ihrer kürzlich verstorbenen Mutter und puzzelt ihr Leben neu zusammen.
Puzzeln müssen auch die LeserInnen, denn die durcheinandergewirbelte Chronologie des Lebens, das Gina um die Ohren fliegt, macht einem das Textverständnis manchmal nicht leicht.
Was mich aufge- und erschreckt hat, ist die kalte Distanziertheit, mit der Enright die Ich-Erzählerin ihre Beziehungen eingehen und sie entwirren lässt – fast so, als ob Gina ihr virtuelles Alter Ego im „second life“ beschreibt. Es erinnert mich sehr an meinen Ärger über die schultergepolsterte, toughe gläserne Schreibtisch-„Spaßgesellschaft“ (und Rathlin Communications’ Aufgabe ist es, die europäischen Unternehmen mit „Spaß“ ins englischsprachige Internet zu bringen!) Ende der 80ger/Anfang der 90ger Jahre.
Ob sich Gina Evies Schuh anziehen sollte, alleinige Verantwortliche für das Scheitern der Ehe ihrer Eltern zu sein, darüber mag man geteilter Meinung sein – schließlich ist der Vorwurf typisch für Töchter, die den Helden Vater niemals vom Thron stürzen (nicht einmal Gina, die unter den z. T. verletzenden Statements ihres Vaters, eines alkoholkranken, dementen Lebemannes, leidet, tut dies).
Doch jemand, der heiratet, weil es so praktischer ist mit dem Abbezahlen eines Hauses, dessen Wert angeblich stündlich steigt („Listen to the money“...), der wird nach einer gewissen Zeit sehnsüchtig nach einer gewissen Leichtigkeit Ausschau halten: „ It was the luxury of the kiss that held me, the pure pointless, greedy delight. ... After the kiss, the five-minute, ten-minute, two-hour kiss – the actual sex was a bit too actual, if you know what I mean.“
Genau deshalb hat es sich gelohnt. Das Lesen dieses Buches und die Affäre.