Vorhang auf und keine Fragen offen
Das Geschäft für feine Wäsche hat nur wenig Gäste. Leer ist es nicht. Vor dem Abendessen in die Stadt, nach deiner süß-tänzelnden Begeisterung in die Umkleidekabine. Stoffliches, Berührbares, zur Schau gestellte Sehnsucht. Du ziehst die Halterlosen hoch, fährst mit dem Finger über das nächste Stück, Verführungswille in deinen Augen, mehr noch: reine Begeisterung. Du winkst mich heran, posierst auf Tuchfühlung. Dein Geruch, deine Nähe. Ein zärtlicher Kuss, dann schickst du mich nach draußen. Hinter den Vorhang. Ich warte, du lässt dir weitere Dessous reichen. Um mich herum eine Verkäuferin und ein Herr mit vollen, schwarzen Haaren. Sie fachsimpeln, die Größe seiner Frau ist ihm bekannt. Er bemerkt meinen Blick, nickt mir zu, ich grüße wortlos zurück. Minuten vergehen, wir bleiben uns fremd, aber höflich gewogen. Dann stehst du nackt in der Welt. Vor dem Vorhang.
»Helena!«, entfährt es ihm. In kraftvoller Anerkennung. »Anouk.", antwortest du. Mit weicher Stimme. Er kommt näher. Du bleibst. Eure Augen ineinander verhakt. Seine Distanzlosigkeit ist natürlich, selbstbewusst. Er steht vor dir, als sei ich abwesend. Ich bin es nicht. Dein ausgestreckter Arm erreicht ihn fast, als du mit dem Finger auf mich zeigst: »Frag ihn zuerst.« Mit einer langsamen Drehung und nur wenigen Schritten bist du wieder verschwunden. Hinter dem Vorhang.
Die Verkäuferin simuliert Beschäftigung, räumt Ware, ohne sich zu konzentrieren Man sieht es an ihren Händen, die manchmal danebengreifen. Sie schaut nicht hin. Er schaut mich jetzt an. Eine inzwischen fertig gepackte Einkaufstüte für seine Frau stellt er ab. Ich fühle kalten Schweiß in meinem Nacken. Seine rechte Hand greift in die Innentasche seines Jacketts, wenig später: Geldscheine in einer silbernen Klammer. Ich starre auf den Boden. Wut. Hitze. Vor dem Vorhang.
»Hältst du sie für eine Hure?« Schreie es fast. Und gehe langsam auf ihn zu. »Ich bitte um Verzeihung«, entgegnet er gelassen. Es ist ihm nicht peinlich. Das Bündel verschwindet geräuschlos in seiner Tasche. Er legt den Kopf zu Seite, lächelt. Ein Moment für eine gemeinsame Zigarette, denke ich. Wir sollten das rauchend erleben. Dunst der Stunde. Atmosphärische Verdichtung. Stattdessen stehe ich wie angewurzelt. In seiner Nähe. »Okay. Dann dreh dich um! Ich gehe da jetzt rein.« Sein Kommando lässt er wie eine Bitte klingen. Als habe er Talent. Wie zwei Duellanten kehren wir uns den Rücken zu. Sein Ziel erreicht er schnell. Es wartet. Hinter dem Vorhang.
Der Blick der Verkäuferin geht an mir vorbei. Er verrät mir, dass die Kabine offensteht. Sie schaut hin, sie schaut in meine Augen. Ihre Hände ziehen nun Laufmaschen in ausgelegten Strümpfen. Sie ist hübsch, sie ist jung. Ihr Ausdruck pendelnd, zwischen Erregung und Erstaunen. Rührend. Echt. Ich nicke ihr zu. Es ist okay. Sie erwidert mit kurzer Geste. Hinter mir hat er dich herumgewirbelt. Sofort. Ich weiß, dass er nicht fackelt. Kann es fühlen, ohne es zu sehen. Und erlebe es gleichzeitig in ihren noch vor wenigen Minuten unschuldigen Augen. Jetzt sind sie Spiegel der Lust, Zeugen der öffentlichen Ausschweifung. Er nimmt dich von hinten. Schnell und hart. Deine Hände an der Wand, so wird es sein. Er konsumiert dich, noch im Ladenlokal, frischer geht's nicht. Deinen Mund hält er dir zu, aber du bist zu hören. Ein tiefes Grunzen nach zwei Minuten verrät seinen Orgasmus. Er entlädt sich in mehreren Stößen. Die Verkäuferin zuckt bei jedem, schaut hin, schaut weg. Ich schließe die Augen. Vor dem offenen Vorhang.
Copyright: Gilbert Bach. 2023.