Fern: Beziehungen
Das Kopfsteinpflaster ist spiegelglatt. Mit Mühe schaffe ich es hinein. Zu viele Mäntel auf nur wenigen Haken. Die Kellnerin verschwindet mit meiner Jacke zwischen den Gästen. Ich richte mein Jackett, zupfe an meinem Pullover, fühle, ob der Kragen meines Hemdes sitzt. Vor mir wichtige Menschen in Proseccolaune. Bald habe auch ich ein Glas in der Hand. Im überfüllten Lokal bewegen wir uns umeinander wie Walzer-Tanzende. Und verstehen einander kaum. Aber wir lächeln. Der, dem es besonders leichtfällt, ist besonders wichtig. Alle anderen angestrengt, vermutlich in Gedanken woanders. Mir ist immer noch kalt, die anderen schwitzen schon.
Zur Consommé die erste Nachricht auf meinem Handy. Anouk ist bei ihnen angekommen. Claire schickt ein Foto: Jon begrüßt meine junge Freundin. Sie strahlt mit offenen Augen, seine rechte Hand auf ihrer Hüfte. So stehen sie voreinander, noch im Flur. Die nur dem Anschein nach harmlose »Schön-dass-du-hier-bist«-Geste gilt mir. Sie ist bewusst, aber nicht inszeniert. Die Kellnerin räumt meine Suppe ab. Ich werde in ein Gespräch verwickelt. Und will weg.
Kurz nach dem Brotsalat schreibt Anouk: »Die sind ja beide voll nett!« Ihre Sprache lässt mich schmunzeln. Mein Gegenüber, weniger nett, fühlt sich durch meine Reaktion animiert, nachzufragen. Ich weiche aus. Und lüge mühelos. Die Frau, der Hund, alles »sehr süß«, er wisse schon. Wir wenden uns voneinander ab und probieren unser künstliches Lächeln an jemand anderem aus. Das gelingt besser. Irgendwo fällt ein Tablett. Dann neuer Wein für alte Männer.
Jons Nachricht erwischt mich zwischen den Gängen. »Anouk übernachtet in deinem Zimmer. Ich vermutlich auch.« Mein rotes Gesicht kann ich fühlen. Es stört mich weniger als meine Abwesenheit. Ich antworte: »Was meint Claire dazu?«
Die einzige Frau in der Runde bestellt ihren Fisch ab. Und wechselt das Hauptgericht. Ihr sei heute nach Fleisch. Großes Gelächter. Ich schäme mich. Und schenke ihr ein Lächeln. Sie erwidert schüchtern, aber erleichtert.
Aus der Küche läuft ein Kind. Es weint, es schreit. Großes Drama. Jemand stürmt durch die Schwingtür hinterher, es ist die Köchin. Jetzt gerade ist sie verzweifelte Mutter vor Publikum. Ein Gast beruhigt die schluchzende Tochter. Alle sind abgelenkt, es gibt Applaus. Ich finde das merkwürdig, klatsche aber mit.
Dann schreibt Jon: »Es war Claires Idee. Deine Frau will, dass ich deine Freundin ficke. Und ausnahmsweise mal nicht sie. Schlaf schön, Casanova.«
Ich schaue auf mein Brasato in Rotweinreduktion neben getrüffelter Polenta. Als könne ich mich durch Starren dreihundert Kilometer zurückversetzen. Ich kann es nicht. Und warte vergebens auf eine neue Nachricht, bevor ich mich mit einem Vorwand aus der Runde ins Hotelzimmer verabschiede.
Für den Rückweg benötige ich länger als gedacht. Weißes Sneaker-Blendwerk auf frostigem Grund. Das Hotel direkt am Tierpark. Mein Zimmer im vierten Stock. Draußen schneebedeckte Flächen, etwas Wald, in der Ferne Laternen. Ich sehe einen Hirsch. Schaut er zu mir hoch? Er steht, scheint zu warten. Mit geschlossenen Augen nicke ich ihm zu. Bei meinem nächsten Blick ist er verschwunden. So wie ich.
© Gilbert Bach. 2024