Drahtseilakt

In den ersten Jahren mit Claire stand ich mehr als einmal auf dem Drahtseil. Cuckolding ist, bis es zur Lebensform wird, ein Tanz auf dem Seil, das stete Ringen nach Gleichgewicht. Erst mit der Zeit gewinnt man Sicherheit. Es hilft, zu verstehen. Sich bewusst zu werden, so war es bei uns, dass es Stilmittel unserer D/s-Beziehung ist. Zuvorderst also anzuerkennen, dass wir diesen hierarchischen Kick lieben, so sind, gerade das miteinander erleben. Man häutet die Zwiebel und weint, zaubert die unterschiedlichsten Speisen auf den Tisch, alle auf süß-scharfer Basis, erst mit der Zeit kommt der Genuss. Unerlässlich: Erfahrung und Varianz, sich Raum fürs Scheitern geben, erneut ausprobieren. Claires Natürlichkeit als Motor, meine Verehrung als Verstärker.

Von der Vorlesung zurück nach Hause kommen, als junger Student, den Schlüssel auf das Sideboard legen, die Türe ganz leise schließen, weil man sie bereits hört. Beim ersten Mal unter Vollspannung, unsicher in die Küche, wartend, schließlich ihrem Lover begegnend, wie er nackt und ungeniert an den Kühlschrank geht, sich ein »Hi« abringt, wieder zu ihr geht. Das Seil vermieden und doch gestürzt.

Beim nächsten Mal sofort ins Schlafzimmer, vom Adrenalin gepeitscht, mein Eintritt, ihre kurze Pause. Ich sehe, wie ein für mich neuer Mann ihren Fuß auf seinen Schultern hält, zärtlich, ihren Knöchel küsst, sie liebkost, dann beide Blicke zu mir. Meine Unfähigkeit zu reden oder mich zu bewegen, entscheidet über das weitere Vorgehen. Ich sehe es in Claires Augen. Ich hatte die Chance, einzugreifen, mein Veto einzulegen, mich aufzuregen, Wut und Enttäuschung zu artikulieren. Doch ich stehe wie angewurzelt. Nur wenige Sekunden. Dann zieht sie ihn zu sich herunter, küsst ihn leidenschaftlich, handelt, schickt mich dabei mit einer Geste ihrer rechten Hand aus dem Zimmer. Vom Seil gefallen.

Schon beim dritten Mal halte ich ihre Hand, während Marcus in ihr kommt. Das Spiel hat sich verändert. Nur, um sich später zu wiederholen. Aber anders. Es bleibt ein Drahtseilakt. Jedes Mal.

© Gilbert Bach. 2024