Ich lehne das Thema Vergebung nicht ab. Ich grenze ein, wann ich es brauche mir selbst zu vergeben und wann nicht.
In meinem Weltbild ist durchaus Platz für Psychologie.
Demnach ist Wut eine wichtige Emotion. Sie dient der Abgrenzung von und/ oder Auseinandersetzung mit dem Gegenüber. Genau dazu hatte ich diese im Sommer benutzt. Das Gegenüber hatte bis dato eine ehrliche Auseinandersetzung vermieden. Als ich erkannte, dass es in ihrem Weltbild der spirituell tantrischen Universalliebe überhaupt keinen Platz für Abgrenzung von und Auseinandersetzung mit anderen Menschen gibt, war ich zwar enttäuscht. Doch ich akzeptierte es. Wenn sie die Emotion Wut derart entwertet, dass sie diese im Kontakt zu anderen Menschen nicht nutzten will, dann ist es ihre Entscheidung. Und es ist meine Entscheidung, zu so einem Menschen auf Distanz zu gehen.
Damit hatte meinen Wut ihren Daseins-Zweck erfüllt.
Wir hatten die passende Distanz.
Ich wurde monatelang nicht mehr wütend auf diese Frau.
Also es gab keinerlei Wut bei den direkten Kontakten übers Form. Hier und dort las ich von ihr Beiträge. Einige davon fand ich sogar gut. Ich hätte ihr dafür ein Like gegeben. Aber das kann sie ja nicht wissen, da sie mich auf igno hat.
Andere Beiträge ließ ich einfach als ihre Meinung stehen.
Beiträge, bei denen ich Lust bekommen hätte, mit ihr zu diskutieren las ich in dieser Zeit nicht. Und wenn, dann wäre ich wohl auch in die Diskussion gegangen. Aber nicht aus Wut, sondern aus Interesse am Thema.
Also für mich ein ganz normaler Umgang mit Mitforisten.
Selbst als mir vereinzelt zugetragen wurde, was sie anderen über mich geschrieben hatte, flackerte kaum noch Wut in mir auf.
Und wenn ich wütend wurde, dann ging es um Inhalte, die ich - auch nach einem gescheiterten Kennenlernen zwecks potentieller Freundschaft - so nicht nach außen getragen hätte.
Mit diesen kleinen Anflügen von Wut setzte ich mich auseinander:
• In manchen Fällen kam ich zu dem Schluss, dass ich da einer Person, die ich gerade erst kennenlernte zu rasch zu viel anvertraut hatte. Da spielte Vergeben druchaus eine Rolle. Ich vergab mir selbst. Und schrieb in Gedanken ein "Memo an mich", da in Zukunft eine Grenze zu setzen.
• In den meisten Fällen aber würde ich in Zukunft ebenso entscheiden.
Das Kennenlernen von fremden Menschen birgt nun Mal immer das Risiko, dass jemand das Gesagte früher oder später gegen einen verwenden könne. Dieses Risiko will und werde ich wieder eingehen. Da wäre "mir selbst vergeben" am falschen Platz. Da vergebe ich ihr, da sie in Punkto Privatsspähre offenslichtlich eine ganz andere Einstellung hat als ich. (Aber das hatte ich ja bereits im Sommer festgestellt. Wenn ich erst Mal meine Entscheidung getroffen hatte, in Zukunft wieder so zu handeln, ging das "ihr vergeben" ziemlich schnell.)
• Da das Thema nun Mal im Raum stand, bezog ich auch selbst Stellung. Mein Gegenüber hätte es ja nicht angesprochen, wenn es ihn nicht beschäftigen würde. Dies galt es zu klären. Und in diesem Rahmen war das Zeigen der Verärgerung über ihre Ergüsse ein kommunikatives Mittel. Anders würde es für Gesprächspartner schwierig zu erkennen, wo für mich wichtige Grenzen überschritten wurden. Also was mir wie wichtig ist. Das gehört nun Mal zum Kennenlernen dazu.
Hätte sie nicht derart herum getratscht, hätte ihre und meine alte Geschichte in diesen Kontakten überhaupt keine Rolle gespielt.
Wie gesagt. dies waren nur kurze Anflüge von Wut und sie war relativ gering.
Meistens blieb ich gelassen und fasste es einfach als ihre Meinung/ ihre Sichtweise auf.
Die Enttäuschung vergeblich so viel Zeit und Energie in sie gesteckt zu haben, habe ich längst verdaut. Und Enttäuschungen in der Kennenlernzeit empfinde ich als normal. Dementsprechend brauchte ich mir da auch nicht allzu viel zu vergeben. So habe ich halt ein für mich neues, für mich unverträgliches Kommunikationsmuster kennengelernt. Und das nächste Mal werde ich es früher erkennen und entsprechend handeln. So what?
Anders wäre es, wenn ich erst nach andauernder Beziehung auf Dinge stoße, die ich hätte wissen können, aber parout nicht wahrhaben wollte. Doch das war hier ja definitiv nicht der Fall.
Apropos Wut und Bewertungen:
Mich macht es übrigens selten wütend, wenn jemand in bestimmten Punkten anders tickt als ich. Es kommt ja auch immer auf die Situation an, durch die die Andersartigkeit ans Licht kommt.
Ich bewerte dies einfach in der Art:
Passt nicht zu mir. Habe ich Interesse daran eine Brücke zu bauen? Einen Kompromiss im Umgang miteinander zu finden? Hat mein Gegenüber das auch? Oder ist das ein Punkt, an dem wir unser Anders-Sein einfach so stehen lassen und uns auf unsere Gemeinsamkeiten konzentireren können? Oder passt es insgesamt nicht?
Ob nun mit oder ohne Wut (situationsabhängig): Meine Bewertungen gehen also meist in Richtung Beziehung. Und falls ja, welche Art der Beziehung uns beiden Freude machen könne.
An neuen Freundschaften habe ich selten Interesse. Meistens finde ich eine Bekanntschaft besser.
Was mich wütend macht, ist, wenn jemand heuchelt, er hätte Interesse an meinem Erfahrungsschatz in XY und meiner Sichtweise zu diesem oder jenem Konfliktthema und innerhalb dieser Gespräche dann versucht, mich von seinem "einzig wahren" Weltbild zu überzeugen.
Oder aber die Gelegenheit eines gegenseitigen Feedbacks erneut dazu nutzt, mich von seinem "einzig wahren" Weltbild zu überzeugen.
Oder so ganz grundsätzlich: Wenn jemand anfängt, meine Emotionen als richtig oder falsch zu bewerten und wann ich was mit meinen Emotionen tun dürfte, zu diskutieren. Meine Emotionen sind eindeutig mein Ding. Und da schmeiße ich jeden Angreifer oder Eindringling hochkant vor die Türe.
Bei solchen Grenzverletzungen brauche ich die Abgrenzung gegen Menschen, die mich ungefragt belehren und bekehren wollen.
Wut - bzw. Verärgerung - ist dazu die passende Emotion.
Dieser Austausch hier ist aber nur ein Austausch über unterschiedliche Herangehensweisen und Umgangsformen mit dem Thema Vergebung. Wenn Du Vergebung immer anwenden magst, wenn Du mit Wut konfrontiert wirst, ist das Dein Ding. Während es mein Ding ist, Wut primär zur Nähe-Distanz-Regulation zu nutzen und nur in bestimmten Fällen zur Vergebung zu greifen. Und auch da gibt es Unterschiede, was ich zur Heilung brauche: Mir selbst vergeben oder dem/ der Anderen zu vergeben (siehe oben).