Die Reise nach Ägypten
Das 24. Türchen offenbart sich:
Alle Jahre wieder mache ich mir um die Weihnachtszeit schwere Gedanken um das "Was wäre wenn..." der heiligen Familie und traktiere mit den Ergebnissen ungefragt meinen erweiterten Dunstkreis. Die offiziellen Versionen der vier bekannten Evangelisten sind ja möglicherweise nicht die ganze Wahrheit. Neulich war es
Josef, dem meine Sorgen galten.
Dieser Tage sind zwei meiner noch recht jungen Nachbarn Eltern geworden. Seitdem herrscht nicht nur eitel Sonnenschein, sondern auch ein schweres Kommen und Gehen in unserem Haus. Die komplette deutsche Baby-Industrie gibt sich hier die Klinke in die Hand. Das hat mich zu der folgenden Geschichte inspiriert.
Glaubt man dem Matthäusevangelium, floh die Heilige Familie vor König Herodes, -der aus Angst vor dem geweissagten neuen König der Juden befohlen hatte, alle Knaben unter zwei Jahren zu töten-, nach Ägypten. Wie vieles in der Bibel, ist möglicherweise auch dies eine Geschichtsklitterung. Hier lesen Sie, wie es wirklich gewesen sein könnte.
Sterne mit Zahlen weisen auf Fußnoten hin.
Maria lächelte stillvergnügt vor sich hin. Gerade hatte sie den frisch gestillten und gewickelten Jesus wieder in der Krippe verstaut und gedachte sich ein kleines Vormittagsschläfchen im zugigen Stall zu Bethlehem zu gönnen.
Josef, -noch immer etwas brummig und missvergnügt wegen der Engelsaffäre*1 -, diskutierte vor der Stalltür mit den verkaterten Hirten, die gestiefelt und gespornt zum Aufbruch bereit standen, aber Ochs und Esel partout nicht mitnehmen wollten. Josef verlor die Diskussion und die beiden Viecher durften bleiben.
Derweil näherte sich gemessenen Schrittes, ein in feines Tuch gewandeter älterer Mensch mit langem Bart, öligen Haaren und einem ebensolchen Lächeln. Eskortiert von zwei kräftigen Sklaven, deren einer, -vermutlich der Ranghöhere-, einen hübschen schweinsledernen Koffer, der andere hingegen einen Stapel dünner Steinplatten schleppte.
„Winsch ich guten Tag!“, begann er strahlend und zeigte zwei Reihen kräftiger gelbbrauner Zähne. „Hab ich geheert von Ereignis freidiges, wo hat stattgefunden gestern Abend. Seid Ihr der Vater?“
Josef übersah die ihm entgegen gestreckte Hand und war sofort misstrauisch.
„Was für ein Ereignis? Wer, wieso, warum und von wem?“ stammelte er.
„No“, griente der Ölige „hot der scheene Engel bei Friehstick in Kaffeehaus…“
„Dieser Scheißkerl“, brüllte Josef ungehalten. „posaunt die Früchte seiner Tat jetzt schon in ganz Judäa herum? Kann diese Ratte sich nicht…“
„Seenchen“, unterbrach ihn der Patriarch munter, „kannst du dich beruhigen. Engel ist nach Friehstick abgereist. Nach Morgenland. Wirrrd sobald nicht wiederchemmen.
Das besänftigte Josef in der Tat.
„Kennen wir kommen nu zum Geschäft!“ Es war keine Frage, sondern eine Feststellung. Der Alte wechselte mühelos von seinem bisher benutzten örtlichen Dialekt in fließendes aramäisch:
„Gestatten Se zunächst, dass ich mich vorstelle, werter Herr. Ich bin Jedna Ben Tekoah und habe die Ehre zu sein, erster Vorstand und Präsident des VdeWB *2 .
Se sind frischgebackener Vater!
Se haben Familie!
Se tragen Verantwortung!
Se werden Unkosten haben, fier die Grindung von Hausstand…“
Josef stand mit offenem Mund und bot so, man muss es leider sagen, einen ziemlich dümmlichen Anblick.
„Hier hilft Ihnen, werter Herr“, fuhr Ben Tekoah unbarmherzig fort „der VdeWB vertreten durch Jedna Ben Tekoah vellich uneijennitzig auf die Springe.“
Dabei legte er väterlich einen Arm um Josefs kräftige Schultern, während ihm der beträchtliche Charme seiner phönizischen Wucherer-Vorfahren aus jedem einzelnen Barthaar troff. Durch jahrzehntelange Erfahrung im Bankgeschäft wusste Tekoah ganz genau, wann der Fisch an der Angel zappelte. Und das hier, schien ein ganz besonders dicker Fisch.
Künftiger König der Juden, hatte der -durchaus vertrauenerweckende- Engel gesagt. Da konnte man schon mal etwas riskieren und beizeiten investieren. Hoflieferant und Bankier des Königs. Ha! Das waren Aussichten für den alten Ben Tekoah.
Josef brachte noch immer keinen Ton heraus. Er runzelte nur fragend die Stirn.
„Kinder kosten Geld“, hub Jedna aufs Neue an. „Ich leihe Ihnen, werter Herr, auf zwanzig Jahre, no…“, er taxierte Josef mit Kennerblick „…sagen wir zehn Talente. Das ist eine schene runde Zahl. Und weil Sie es sind, fier nur fünfundzwanzig Prozent. -- Oijh, was sag ich…, achtundzwanzig Prozent weil heit ein Glickstag ist und aus purer Freindschaft. Nu?“
Zwischenzeitlich und während Tekoahs Monolog marschierten nach und nach zahlreiche weitere Gestalten auf, die das Gespräch interessiert zu verfolgen schienen und sich in gutturalen Tönen schnatternd unterhielten.
Wie sich bald herausstellte, handelte es sich um die Vertreter der leistungsfähigsten Betlehemenischen Herstellerbetriebe für Kinderbedarfsartikel sowie der nachgelagerten Nebengewerbe aus dem weiteren Umland.
Angeführt von einem Verkäufer der Vereinigte Bollerwagen Bath-Jam, folgten zunächst die Vertreter der Assekuria Samaria VVaG *3, der Milchwerke Jericho sowie des international tätigen Spielwarenkonzerns Puer et Conus *4 .
Die Süßwarenindustrie ließ einige lebensgroße Exemplare des Markenartikels „URSUS CUMMIS AUREUS“ *5 in schafwollenen Bärenkostümen aufmarschieren, die angeregt mit der Vorsitzenden der Genossenschaft niedergelassener und ambulanter Hebammen in Galiläa parlierten, welche lautstark über die Nachteile einer unbeaufsichtigten Hausgeburt schwadronierte.
Der in Jerusalem eingetragene Kamelzüchterverband und die wegen ihrer hochwertigen Qualitätsprodukte weit über die Landesgrenzen hinaus bekannte Hamsterkäfigfabrik Emmaus hatten ebenfalls ihre örtlichen Repräsentanten entsandt. Den vorläufigen Schluss bildete eine Abordnung der Eventagentur, Brautkleider und Kindermodenverleih Kanaan GmbH, kurz EBKK. Auch sie, wie alle anderen, erwähnten den Engel als Informationsquelle.
Des armen Josef Schädel brummte. Er fühlte sich diesem konzentrierten Ausbund israelitischen Geschäftssinns hoffnungslos unterlegen und suchte daher folgerichtig zunächst sein Heil in der Flucht. Schnell schlüpfte er durch die Stalltüre und verammelte sie, so gut es ging, von innen.
Derweil erklärte die aufheulende Meute, angeführt von Jedna Ben Tekoah, und lautstark unterstützt von der galiläischen Hebamme, den Belagerungszustand.
Nach etlichen Stunden unter der sengenden Sonne Palästinas, gelang es dem Vertreter der Assekuria Samaria VVaG sich, -auf nicht mehr nachvollziehbaren Wegen und unter Missachtung der gesetzlich vorgeschriebenen Mittagsruhe bei Belagerungen-, Zutritt zum Stall zu verschaffen.
In einer handstreichartigen Aktion überzeugte er Maria und Josef von der unabdingbaren Notwendigkeit des sofortigen Abschlusses einer Ausbildungs- und Unfallversicherung für den kleinen Jesus. Josef resignierte und unterschrieb, gegen das Versprechen des Vertreters, keinerlei Verlautbarungen über den getätigten Geschäftsabschluss an das draußen lauernden Gesindel abzugeben.
Die Prämie sei jedoch im Voraus und in bar fällig, so der Vertreter.
Josef besaß kein Geld. Also wurde, -unter dem Siegel der Verschwiegenheit-, Jedna Ben Tekoah samt seiner beiden Gehilfen und mit Verschwörermiene in den Stall gebeten.
Wohlweislich hatte der Geldverleiher die Verträge über das Darlehen bereits in Stein meißeln lassen. Damit ging der Steintafelträgersklave mit einem Schlag der Hälfte seiner Last verlustig, was ihn sichtlich freute. Der schweinslederne Koffer des anderen Sklaven enthielt einen Beutel mit dem Geld, das Tekoah umständlich und unter Abzug eines Disagios von zehn Prozent aufzählte. „So!“, grinste er vergnügt und rieb sich die Hände. „Das wird fiers Erste reichen. Und Zinszahlung pinktlich jeden Monat!“, fügte er mit strengem Blick hinzu
Der Vertreter kassierte auf der Stelle die fünf Silberlinge Prämie für das erste Versicherungsjahr und unter lautstarken Glück- und Segenswünschen verabschiedete sich das Quartett durch die Stalltür.
Das stellte sich als schwerer Fehler heraus. Sofort stürmte die gesamte israelitische Babywaren- und Dienstleistungsindustrie mit schwerem Belagerungsgerät den altersschwachen Stall, dessen Tür dieser konzertierten Aktion nicht standhielt. Die Situation drohte zu eskalieren.
Maria und Josef hatten keine Chance. Den geballten Verkaufsargumenten der Belagerer, die unter dem ohrenbetäubenden Geschrei eines orientalischen Basars auf sie eindrangen, hatten sie nichts entgegenzusetzen.
Jeder wollte seine wohlfeilen Produkte als erstes an den Mann, die Frau und das Kind bringen.
Den glanzvollen Höhepunkt der Angebotsorgie bildete ein -bei sofortiger Barzahlung mit 10% rabattierter- Vorvertrag für die Ausrichtung der in dreizehn Jahren geplanten Bar-Mizwa-Feier *6 des Knaben Jesus, den der Eventveranstalter aus Kanaan unterschriftsreif parat hatte.
Josef, bekanntlich ein kräftiger Handwerker, platzte die Murmel. Er packte einen als Wanderstock genutzten soliden Knüppel aus elastischem Olivenholz, den die Hirten hatten liegen lassen und prügelte die ganze Gesellschaft unter wüsten Schimpfworten zur Stalltür hinaus. Das gab Beulen und blaue Flecke.
Bedauerlicherweise kamen auch eine Milchpumpe und einige Glasflaschen zu Schaden so dass die barfüßige Hebamme sich an den Scherben den Fuß verletzte.
Lautes Protest- und Schmerzgeschrei, Rufe nach der Ordnungsmacht, finstere Racheschwüre und dergleichen mehr hallten mächtig über das Schlachtfeld. Maria stand heulend in einer Ecke, Ochs und Esel trugen in ihren eigenen Sprachen zum lautmalerischen Bild bei, wohingegen der Knabe Jesus in den höchsten Fisteltönen schrie. Womöglich erlitt er hier das Trauma, das ihn Jahre später dazu nötigte, die Händlerscharen aus dem Tempel zu peitschen.
Kurz und gut. Nach einer Viertelstunde war der Spuk vorbei. Die Verlierer bliesen zum strategischen Rückzug und verlegten ihre Stellung Richtung Stadtmitte. Nur von Ferne hörte man sie noch lamentieren. Maria und Josef sahen ihnen lange nach, während sie am Horizont entschwanden und beruhigten derweil den Knaben. Der Tag war schon weit fortgeschritten und man hatte Hunger. Soeben begann die Familie, die spärlichen Vorräte zu sichten, als erneut und überraschend der Engel erschien.
Gut, dachte Josef mit Mordlust in den Augen. Heut ist der Tag des jüngsten Gerichts. Jetzt ist er fällig. Er packte den Knüppel.
„Vade retro!“, quiekte der Engel ängstlich. „Du weißt, nach jüdischem Gesetz gilt Auge um Auge und Zahn um Zahn. Und du hast gerade einige Zähne auf dem Gewissen. Die Händler haben dich bei Herodes verklagt. Außerdem gefällt dem Herrscher die Story vom König der Juden so gut wie überhaupt nicht und in wenigen Minuten werden die Häscher hier sein. Besser wir machen die Fliege.“
„Die Geschichte hast DU uns doch eingebrockt, Engel, boaniga *7! Nun hilf uns gefälligst hier raus!“, schrie Josef voller Sorge um sich und Frau und Kind und Maria begann schon wieder zu heulen.
„Ein bisschen mehr Dankbarkeit, wenn ich bitten darf!“, keifte der Engel zurück. „Ich rette gerade deinen vertrockneten, nazarenischen Zimmermannsarsch! Und nun hör auf zu lamentieren, wir haben keine Zeit! Los! Packen!“
In aller Eile rafften sie ihre wenigen Habseligkeiten zusammen und beluden damit den Esel.
Ben Tekoah las den Steckbrief noch einmal durch:
Gesucht wird ein galiläisches Ehepaar, Maria und Josef von Nazareth in Begleitung eines neugeborenen Knaben. Die Genannten werden des Bankraubes mit Körperverletzung, Versicherungsbetrugs in Tateinheit mit Sachbeschädigung sowie des Diebstahls eines Esels beschuldigt. Vermutlich sind sie auf dem Weg nach Ägypten. Für sachdienliche Hinweise zum Aufenthalt der genannten Personen zahlt die königliche Intendantur nach Ergreifung dem Hinweisgeber 30 Silberlinge.
Er schüttelte sein weises Patriarchenhaupt. „Oij oij oij, fircht ich, das wird noch bese enden!“ Er zerknüllte den Papyrus, seufzte noch einmal vernehmlich und machte Anstalten, ihn ins Feuer zu werfen. Doch dann besann er sich anders, strich das Papier sorgsam glatt und drückte es seinem Lehrling in die Hand. „Kennen wir filäicht noch einmal brauchen. Hebst Du das auf in Archiv, Judas. “
*1 siehe Weihnachtsgeschichte 2012 - Josef
*2 Verein der eingetragenen Wucherer in Bet-lechem
*3 Erste Adresse für Versicherungen in Samaria
*4 Kind und Kegel
*5 auch heute noch als Gold-Gummibären im Handel
*6 religiöse Mündigkeit eines jüdischen Knaben mit 13 Jahren
*7 Eine Reminiszenz an Alois Hingerl, den Münchner im Himmel