******uja:
Was haltet ihr denn von der Grundthese – je mehr Menschen eine Sprache sprechen, desto mehr wird eine komplexe Grammatik durch erweitertes Vokabular ersetzt?
Also wenn niemand dazu eine Meinung hat, dann leg ich mal los.
Der Artikel vermischt zwei Dinge:
1.) Den Unterschied zwischen synthetischen und analytischen Sprachen. Als "synthetisch" bezeichnet man Sprachen, die möglichst viel Information in Flexion und Deklination packen, als "analytisch" solche, die einzelne Aspekte in entsprechenden Funktionswörtern ausdrücken. So ist Latein eine überwiegend synthetische Sprache, Englisch und Chinesisch sind hingegen sehr analytisch. In der Regel trifft man aber auf unterschiedliche Mischformen; das Konzept ist daher von begrenztem Nutzen.
2.) Den lexikalischen Reichtum einer Sprache. Dieser hat nichts damit zu tun, ob eine Sprache synthetisch oder analytisch ist, denn zum Ausdruck grammatischer Aspekte braucht es nur eine relativ begrenzte Zahl entsprechender Funktionswörter. Ausschlaggebende Faktoren sind hier vielmehr der Einfluss anderer Sprachen – im Englischen etwa die germanischen Dialekte der Eingeborenen in Verbindung mit der Bildungssprache Latein und später Französisch, was zu zahlreichen Doubletten geführt hat – sowie die geographische Streuung.
Es ist wahr, dass Sprachen mit einem großen Verbreitungsgebiet dazu tendieren, regionale Dialekte auszubilden, und diese regionale Differenzierung zeigt sich zuallererst im Wortschatz – dem Bereich der Sprache, der für Veränderung am anfälligsten ist. Deshalb haben Sprachen mit vielen Sprechern in vielen verschiedenen Ländern einen sehr großen Gesamtwortschatz – jedoch nutzen Sprecher im Allgemeinen nur den Teil davon, der in ihrem Land gebräuchlich ist. Sehr deutlich ist das an den verschiedenen spanischen Dialekten zu sehen, wo v. a. die Alltags- und Slang-Wörter in Spanien völlig andere sind als etwa in Mexiko oder in Argentinien. Das liegt zu einem großen Teil auch an den Indiosprachen in Lateinamerika, deren Einfluss darin immer noch zu spüren ist, auch wenn sie ansonsten praktisch nicht mehr gesprochen werden.
Was allerdings die Veränderungen in der Grammatik angeht, so spricht man von einem Kreislauf: Neue analytische Elemente werden eingeführt, schließlich immer normaler und am Ende Teil einer neuen synthetischen Grammatik. Bestes Beispiel dafür ist das Futur in den romanischen Sprachen, das nicht von der synthetischen lateinischen Form (
cantare – cantabo) abstammt, sondern von einer analytischen vulgärlateinischen Bildung (
cantare habeo). Diese Verbindung hat zu den heutigen synthetischen Formen it.
canterò, sp.
cantaré etc. geführt.
Und redundante Aspekte werden nicht deshalb mehrfach kodiert, um den Kindern den Spracherwerb zu erleichtern, sondern einfach deshalb, weil gesprochene Sprache expressiv ist. Redundanz ist ein Mittel der Expressivität. Und Sprachwandel findet in der gesprochenen Sprache statt.