Dr. Tinas Praxisgeschichten 7
Ich mag eigentlich nicht gerne Patienten neu kennenlernen, indem ich sie zu Hause besuche. Das Setting in der Praxis, die zur Verfügung stehende Assistenz und diagnostische Technik machen vieles leichter. Aber manchmal lässt sich das nicht vermeiden. So war es auch bei Johannes Kramer. Laetitia hatte mir diesen Termin praktisch im Hinausgehen noch in die Hausbesuchstasche geworfen. „Das ist da ein bisschen kompliziert zu Hause. Das wird sicher interessant.“ Okay, wenn Laetitia schon so anfängt, mache ich mich besser auf das Schlimmste gefasst.Johannes Kramer stand da mit Adresse, aber ohne Geburtsdatum. Vor meinem inneren Auge erstand ein vierzig bis fünfzigjähriger Mann, ich dachte an den typischen Selbstständigen, eine Frau hatte wohl angerufen, das wusste ich von Laetitia, wahrscheinlich also die Ehefrau, die sich über irgendetwas Sorgen machte und ihren Mann partout nicht in die Praxis bekam.
So war ich denn auch nicht überrascht, als eine Frau in entsprechendem Alter mir die Tür öffnete. „Ah, Frau Doktor, schön dass Sie so schnell kommen konnten, vielen Dank!“ Das war ja schon mal vielversprechend, man wusste hier offenbar meinen Einsatz zu schätzen. Frau Kramer zeigte mir einen Haken an der Garderobe und führte mich den Flur entlang zu einer Zimmertür, während sie mich über meinen Patienten informierte. „Mein Johannes hat seit einigen Wochen immer wieder so Bauchschmerzen, aber er lässt ja niemanden an sich heran. Heute kam er sogar früher aus der Uni nach Hause, das ist so noch nie passiert. Da hab‘ ich mir denn jetzt wirklich Sorgen gemacht.“ Zwei Dinge schossen mir durch den Kopf. Erstmal: Oje, Bauchschmerzen, da wären wir in der Praxis mit dem Ultraschallgerät wirklich besser aufgehoben. Und zweitens: Uni? Dozent vermutlich, oder ein wissenschaftlicher Mitarbeiter. Aber das war ein Irrtum, wie sich im nächsten Moment herausstellte, denn wir hatten das Patientenzimmer erreicht und es bot sich mir ein unerwarteter Anblick.
Auf einem Bett, recht mittig im Zimmer aber mit dem Kopfende an der Wand stehend, lag ein junger Mann. Nackt. Auf dem Bauch. Ein rektal eingeführtes Fieberthermometer ragte über die Rundung seines Gesäßes. Er hatte offenbar die Tür gehört und den Kopf in unsere Richtung gedreht.
„Mama!“ erklang eine vorwurfvolle Stimme. „Das ist richtig peinlich.“ Unbeeindruckt ging Frau Kramer zum Bett und griff nach dem Fieberthermometer. „Ich war gerade dabei, Johannes die Temperatur zu messen, als Sie läuteten.“ Teilte sie mit und schaute stirnrunzelnd auf das Thermometer. „Und, wie ist die Temperatur?“ fragte ich, um dieser absurden Situation einen Anschein von Professionalität zu verleihen. „Es hat sich abgeschaltet.“ Sie seufzte. Johannes, ihr Sohn, hatte sich inzwischen bedeckt und sich aufgesetzt. „Ich werde bei Bedarf nochmals die Temperatur messen.“ Versicherte ich. Fiebrig wirkte der junge Mann allerdings nicht. „Wenn Sie uns jetzt erstmal allein lassen würden…?“ Auffordernd schaute ich sie an. Sie zögerte. Erst nach einem deutlichen Wink mit dem Kopf seitens ihres Sohnes, verließ sie das Zimmer.
„Das tut mir sehr leid.“ Der junge Mann setzte sich etwas im Bett zurecht. „Meine Mutter übertreibt gerne etwas.“ Ich entschloss mich, das nicht weiter zu kommentieren. „Ich bin Dr. Wegener.“ Stellte ich mich vor und lächelte Herrn Kramer aufmunternd an. „Dürfte ich als erstes Mal nach ihrem Geburtsdatum fragen? Die Akte ist leider nicht vollständig angelegt worden.“ Er nannte mir seinen Geburtstag und ich stellte fest, dass er 22 Jahre alt war. Freundlich wies er mir einen Stuhl zu, auf dem ich Platz nehmen sollte. „Was kann ich denn für Sie tun?“ leitete ich meine Erhebung der Krankengeschichte ein. „Also, ich habe in letzter Zeit sehr häufig Bauchschmerzen. Ich kann dann auch nicht viel essen, meine Mutter macht das ganz nervös. Manchmal kann ich mich überhaupt nicht konzentrieren. Ich habe einiges an Gewicht verloren. Und mitunter ist mein Hals ganz zugeschnürt. Ich denke dann, dass ich keine Luft bekomme.“ Er sah mich erwartungsvoll an. „Also, dass müssen wir ein bisschen auseinander sortieren. Was ist heute das Hauptproblem?“ versuchte ich, die Beschwerden etwas einzugrenzen. „Mein Bauch. Er tat heute sehr weh. Ich bin früher aus der Uni nach Hause gegangen, was ich sonst nie tue.“ „Was studieren Sie?“ „Elektrotechnik. Das ist schon immer mein Traum gewesen.“ Er wirkte begeistert bei dem Gedanken an sein Studium. „Okay, wo genau sitzt der Schmerz?“ Er deutete auf seinen Unterbauch. „Und wie stark ist er zurzeit?“ „Ziemlich stark, würde ich sagen. Aber nicht mehr so doll wie heute Mittag.“ „Wenn Sie mir eine Zahl nennen sollten, auf einer Skala von eins bis zehn. Eins ist etwas, dass Sie gerade so spüren und zehn das Schlimmste, dass Sie sich vorstellen können. Wie würden Sie die Schmerzen jetzt benennen?“ Er dachte einen Augenblick nach. „Vier? Ja, das trifft es ganz gut.“ „Und vorhin, heute Mittag?“ „Das war locker eine sieben. Mir wurde richtig heiß und kalt.“ „Fühlten Sie sich fiebrig?“ Er schüttelte den Kopf. „Das mit dem Fiebermessen ist so ein Tick von meiner Mutter. Richtig krank ist man immer nur, wenn man Fieber hat. Aber Sorgen macht sie sich trotzdem ständig.“ „Ja, das tun Mütter häufig.“ Ich musste mir ein Grinsen verkneifen. Solche Mütter hatte ich schon viele kennengelernt. Ich befragte den jungen Mann weiter. Seine Schmerzanamnese war nicht wegweisend, die Verdauung regelmäßig und die Ernährung ausgewogen. Sorge machte mir die Gewichtsabnahme, aber sie blieb erklärlich durch die ausgefallenen Mahlzeiten. „Schwitzen Sie nachts häufig?“ Herr Kramer überlegte. „Naja, kommt darauf an, wie warm es ist.“ Meinte er schließlich. „Schwitzen Sie so stark, dass Sie die Nachtwäsche wechseln müssen?“ Er schüttelte den Kopf. Meine Fragen nach Übelkeit und Erbrechen sowie Luftnot oder Schmerzen in der Brust wurden auch alle verneinend oder ohne krankhafte Ausprägungen beantwortet. Eine sehr blöde Situation außerhalb der Praxis. „Ich müsste Sie einmal von Kopf bis Fuß untersuchen.“ Kündigte ich an. Er nickte. Ich schaute in seine Augen und die Bindehäute, inspizierte den Mund und die Ohren, alles reizlos und von normaler Farbe. Ich tastete nach der Schilddrüse und den Halslymphknoten, begutachtete die Haut und klopfte auf die Wirbelsäule. „Ich möchte einmal die Lunge abhören.“ Er atmete frei und ohne pathologische Geräusche. Auch das Herz war völlig unauffällig. Ich bat ihn sich hinzulegen. Die Decke zog ich bis zum Schambein herunter. „Ich taste jetzt den Bauch ab, sagen Sie Bescheid, wenn es schmerzt.“ Ich legte meine Hände auf seinen Oberbauch und drückte erst sanft, dann stärker in die Magengrube. „Keine Schmerzen?“ hakte ich nach. „Es ist sehr unangenehm, aber es tut eigentlich nicht weh.“ Ich ließ meine Hände über seinen Bauch wandern und untersuchte alle erreichbaren Organe, bis hin zur Harnblase. Eine Schmerzreaktion blieb aus. „Welche war die unangenehmste Stelle?“ fragte ich. „Die erste. Aber mehr Druck. Jetzt ist mir auch ein wenig übel.“ Ich legte meine Hand auf seinen Oberschenkel unter der Decke. „Versuchen Sie ihr Bein gegen den Widerstand meiner Hand zum Bauch zu ziehen.“ Keine Schmerzen. Dann strich ich als letzte Maßnahme den Bauch entgegen der Peristaltik aus. „Oh, das zwickt jetzt etwas.“ Merkte Herr Kramer an. Als ich nachfragte deutete er auf seinen rechten Unterbauch. Okay, Appendizitis vielleicht, aber auch das nicht spezifisch genug um direkt tätig zu werden. „Nun, ich kann mit den jetzt verfügbaren Mitteln keine eindeutige Ursache feststellen. Aber ich würde Ihnen empfehlen, sich auszuruhen und nur leichte Speisen zu sich zu nehmen. Wenn die Beschwerden wieder auftreten, möchte ich Sie morgen früh in der Praxis sehen. Am besten gleich um halb acht.“ Er nickte verständig. „Und heute Abend bitte nochmals die Temperatur messen. Das erledigt sicher Ihre Frau Mutter für Sie.“ Diesen kleinen Seitenhieb konnte ich mir dann doch nicht verkneifen. Was dann kam, überraschte mich aber. „Wissen Sie, Frau Doktor, meine Mutter hätte so gerne, dass ich noch ihr kleiner Junge bin. Außerdem finde ich das mit dem Thermometer gar nicht so unangenehm.“ Seine Wangen röteten sich leicht. „Nun, wenn Sie beide das für sich so handhaben wollen, spricht ja auch nichts dagegen. Falls die Schmerzen stärker werden, können Sie Ibuprofen einnehmen. Wird es zu heftig, gehen Sie heute Nacht in die Notaufnahme. Alles klar?“ Er nickte. Ich verabschiedete mich und verließ das Zimmer. Halbwegs hatte ich erwartet, dass Frau Kramer sich lauschend vor der Tür aufhalten würde, aber sie war in der Küche. Als sie mich gehen hörte, schoss sie heraus und begleitete mich zur Tür. Trotz ihrer Nachfragen blieb ich bei einem unverbindlichen „Ich habe alles mit Ihrem Sohn besprochen.“ Sie wirkte enttäuscht, hakte aber nicht nach.
Fortsetzung folgt...