Das Geschenk
Das Päckchen sah völlig normal aus. Der Postbote hatte es beim Portier abgegeben, der es ihr ausgehändigt hatte, als sie von der Arbeit nach Hause gekommen war. Sie hatte sich nichts anmerken lassen, war aber vielleicht ein wenig schneller als sonst zum Lift gegangen. Im Aufzug konnte sie dem Drang nicht widerstehen, die braune Pappschachtel zu schütteln, aber nichts war zu hören.Als sich die Tür ihres Apartments hinter ihr schloss, ließ sie ihre Handtasche auf die Couch fallen und ging mit dem Päckchen in die Küche. Dort nahm sie ein scharfes Gemüsemesser und schnitt das transparente Klebeband durch, mit dem die Sendung sorgfältig verschlossen worden war. Luftpolsterfolie kam zum Vorschein, in deren Innern etwas glänzte. Sie war erstaunt über das Gewicht des kleinen Gegenstands, den sie nun so verhüllt in ihrer Hand hielt. Ein wenig skeptisch durchtrennte sie das dünne Klebeband, das die Luftpolsterfolie umschloss.
Ihre Befürchtung bestätigte sich: Das Ding war nicht gerade klein - und vor allem ziemlich schwer.
Tatsächlich sah es eher wie ein Briefbeschwerer aus, als etwas, das sich jemand freiwillig in seinen Körper einführen würde.
Der tropfenförmige Teil war ungefähr fünf Zentimeter lang, aber dann kam noch ein zwei Zentimeter langer zylinderförmiger Stab, an dem im rechten Winkel eine Art Griff angeschweißt war, der ebenfalls Zylinderform hatte, alles aus feinstem Edelstahl. Das Ganze wirkte ein wenig wie eine stilisierte Rakete auf der Abschussrampe. Oder hatte sie diese Assoziation nur, weil sie den Verwendungszweck dieses Utensils kannte?
Jedenfalls konnte sie es nicht einfach hier auf der Küchentheke liegen lassen. Sie nahm es vorläufig zum Duschen mit ins Badezimmer, danach würde sich schon ein gutes Versteck dafür im Schlafzimmer finden. Als sie es auf der Ablage über dem Waschbecken deponieren wollte, merkte sie, dass es sich in ihrer Hand bereits ein wenig erwärmt hatte. Sie hielt es probeweise unter das laufende Warmwasser und stellte fest, dass es recht schnell auf Körpertemperatur kam. Trotzdem fand sie das Gewicht und die brachiale Form abschreckend.
Sie betrat die Duschkabine und gab sich dem entspannenden warmen Wasserstrahl hin, wusch den Staub der Straße von ihrem Körper und aus ihrem Haar. Dabei kam sie in eine träge, leicht sinnliche Stimmung, und als sie mit einem Badetuch umhüllt ins Wohnzimmer ging, nahm sie im Vorbeigehen den Edelstahltropfen an sich, dessen nächste Station der Couchtisch wurde. Als sie ihn mit nassen Haaren auf dem Sofa sitzend betrachte, erschien er ihr nicht mehr so furchteinflößend, eher wie eine lüsterne Herausforderung. Sie stand auf und ging ins Schlafzimmer, um mit einem kleinen Fläschchen wieder zurückzukommen. Langsam und sorgfältig verteilte sie die darin enthaltene Flüssigkeit über die Spitze des Tropfens, wobei sie einen Teil über ihren Zeigefinger laufen ließ. Damit bereitete sie auch den Bestimmungsort ihres neuen Freundes auf dessen Besuch vor.
Dieser zwängte sich erstaunlich geschickt durch die für ihn bestimmte Öffnung und machte es sich in ihr gemütlich. Sie fuhr gedankenverloren über die Stahlstange, die nun ein Stück ihrer Pobacken teilte. Sie hatte sich das sehr viel unbequemer vorgestellt, der Eindringling war keine Belästigung, obwohl er seine Präsenz sehr deutlich machte. Sie fühlte sich ein wenig von ihm in Besitz genommen, obwohl er ja nur ein Gegenstand war. Und sie verspürte momentan auch nicht das Bedürfnis, dies zu ändern.
Mit einem kurzen Brummen kündigte ihr Smartphone eine Nachricht an: „Um 19 Uhr in der Lobby?“ „Ja, freue mich.“ textete sie zurück. Noch eine Stunde. Genügend Zeit, um sich an diesen neuen Zustand zu gewöhnen. Und dann gemeinsam im Lift nach unten zu fahren.