Der Nöck
In der Nacht hatte es zum ersten Mal Frost gegeben. Als sie aus dem Fenster sah, konnte sie die mit Rauhreif überzogenen Windschutzscheiben in der aufgehenden Sonne glitzern sehen. Wenn sie jetzt gleich aufbrechen würde, konnte sie am See sein, bevor es dort allzu lebhaft wurde. Sie liebte es, den dampfenden Nebeln zuzuschauen, die sich über der Wasserfläche bildeten, wenn die ersten Sonnenstrahlen auf sie trafen.Als sie den Uferweg entlang ging, warf sie einen Blick auf die im Entstehen begriffene Biberburg, die wohl außer ihr noch niemand aufgefallen war, denn hier wurde natürlich nur nachts gearbeitet. Im Sommer hatte sie den Schutz, den die überwucherten Bäume an diesem Teil des Seeufers boten, gerne genutzt, um bei Einbruch der Dunkelheit auf ihn zu warten.
Meist erschien er wie aus dem Boden gewachsen, und ihre Begegnungen verliefen wortlos, an sein schattenhaftes Gesicht konnte sie sich nicht erinnern, dafür aber an den Druck, mit dem sich seine Finger um ihre Handgelenke schlossen und den Schmerz in ihren Haarwurzeln, der sie zu Boden zwang.
Manchmal war er sehr schnell mit ihr fertig, wie ein wildes Tier, für das der Geschlechtsakt nur eine Notwendigkeit ist, die in möglichst kurzer Zeit erledigt werden muss, um nicht für Fressfeinde angreifbar zu sein.
Dann schien er wieder viel Zeit zu haben, quälte sie mit seinen Händen und groben Stricken, die er hin und wieder an ihrem Körper zurückließ, sodass sie ihre geschundenen Glieder nach seinem Verschwinden erst freikämpfen musste. Sie bewahrte diese Stricke in einem Kästchen unter ihrem Bett wie Reliquien auf.
Sie wusste nicht, wie er sie gefunden hatte. Das erste Mal war er an einem Frühlingsabend aufgetaucht, als die Tage noch nicht so lang und die Nächte noch kühl waren. Sie saß auf dem Stamm einer umgestürzten Salweide und beobachtete wie die untergehende Sonne ihre letzten roten Strahlen durch die hoch aufragenden Erlen am gegenüberliegenden Ufer schickte.
Er kam lautlos, aber sie konnte seine Präsenz spüren, bevor sich seine Hände von hinten auf ihre Schultern legten. Sie drehte sich nicht um, er war ihr sofort vertraut, ohne dass sie sein Gesicht sehen musste. Als sich seine Hände um ihren Hals legten, konnte sie seinen kühlen Atem in ihrem Haar spüren. Sie freute sich, dass er ihr nahe sein wollte, auch wenn sie gleichzeitig ein Schaudern überlief.
Sie schloss die Augen, als er sie auf die nachtkühle Erde zog und mit seinem Körper bedeckte. Sie hatte das Gefühl, das der See gekommen war, um sie in Besitz zu nehmen, sie öffnete sich ihm nicht ohne Gegenwehr, denn sie wollte spüren, dass seine Begierde ihrer würdig war. Sie betrachtet die Male, die er ihren Schenkeln bei dieser ersten Begegnung zugefügt hatte, noch Tage danach, wenn sie sich nicht mehr sicher war, ob er ein reales Wesen außerhalb ihrer Fantasie war.
Als der Sommer endete, war sie abends oft vergeblich zum Ufer gepilgert. Die Abstände, in denen er sich ihr zeigte, wurden immer größer und auch die Vehemenz, mit der er sie anfangs in Besitz genommen hatte, schien nachzulassen.
Als sich die ersten Blätter rot färbten und starben, blieb er ganz aus. In der Dämmerung starrte sie oft lange auf die dunkle Wasserfläche, bevor sie enttäuscht nach Hause zurückkehrte.
Als sie heute den Rauhreif gesehen hatte, wusste sie, dass es Zeit war, eine Entscheidung zu treffen, bevor der See von einer Eisschicht überzogen wurde. Lächelnd ging sie auf das Seeufer zu.