Das Nachtmahl - Grüße zum 4. Advent
Das Nachtmahl
Es stürmte und ganze Geschwader an Wolkengebirgen zogen am Nachthimmel vorüber, während ihre Dunstleiber den Mond einstweilen bedeckten und versteckten. Sie taten dies geflissentlich, damit ihm niemand auf die Schnelle ansehen konnte, wie voll er im Augenblick des Orkans gewesen war.
Keiner vom Nachzügler-Trupp 96.-573 war darüber informiert worden, dass es heute Nacht einen artigen Sturm geben würde. Wo doch die Oberen sonst immer die Großwetterlage minütlich, manchmal sogar sekündlich, vorhersehen und -sagen konnten. Und dies auch mit einer gewissen Zuverlässigkeit taten, egal ob man es nun hören wollte oder eben nicht.
Ebenso ahnte der Trupp nicht, dass es nun gleich rosafarbene Ziegelsteine vom Himmel regnen würde. Niemand hatte ihnen das vorher mitgeteilt, und sie waren keineswegs mental davor gewappnet.
Leise zischte der eine Nachzügler dem anderen zu: „Hast du auch deine Felddecke und deinen Staubmantel mit eingepackt? Nicht dass du mir am Ende wieder die Ohren volljammerst und ich an deiner statt frieren muss.“
Woraufhin der Angesprochene den anderen nur anknurrte.
Beide Nachzügler standen in der letzten Reihe und bildeten die Schlusslichter ihres Trupps. Sie sahen aus wie zwei gnomige Oggse. Während der angesprochene von ihnen der Witterung nicht entsprechend gekleidet war, hatte der Andere sich spontan in seinen Mantel gewickelt und ihn am Leib sinnbildlich festgetackert und sich die Decke über seine fledermausartigen Ohren gezogen.
Wohingegen die Arme seines Kompagnons noch immer nackt waren, käsig aussahen und in dieser Nacht besonders fahl schimmerten. Man konnte lauter Grind, Schorf und Warzen auf ihnen erkennen.
Der eine Nachzügler schimpfte desderwegen auch mit dem anderen, schließlich hatte sein Kompagnon schon öfters die Spielregeln des Nachzügler-Trupps 96.-573 zu seinen eigenen Gunsten ausgelegt, um die fluge Klugsalbe vor ihren gelegentlich nächtlichen Einsätzen etwas zu dick auftragen zu können. Dabei klang die Stimme des einen Nachzüglers gedämpft und man spürte seinen unterdrückten Groll.
Doch als sich eben dieser Nachzügler so richtig darüber in Rage geredet hatte, kam es, wie es kommen musste. Er hatte einen Moment nicht auf sich Acht gegeben, so dass ihn einer der umherwirbelnden rosafarbenen Ziegelsteine an der Suppenschüssel traf, die er sich verkehrtherum auf den Kopf gesetzt hatte, bevor er sich die Felddecke über den Kopf gezogen hatte.
Der Ziegelstein bescherte ihm eine blutige Knollnase, deren große Zwiebel plötzlich scharfen Saft absonderte und ihm die Tränen in die Augen trieb, so dass er für einige Augenblicke orientierungslos umhertaumelte und dabei seinen Kompagnon anrempelte.
Die beiden Schlusslichter des Nachzügler-Trupps 96.-573 gerieten darüber ins Straucheln, stolperten übereinander und landeten auf allen Vieren im Staub der Wüstenei, um dort in das tiefste, nicht vorhandene Schlagloch auf dieser Welt zu fallen, was es je nicht gegeben hatte.
Der gesamte Trupp drehte sich bei diesem Getöse nach ihnen um und grölte kehlig auf, als sie sahen, wie sich ihre Kollegen – plötzlich mit nackten Leibern – im Staub suhlten und sich langsam wieder, jeder für sich, auf ihre zwei Beine kämpften. Keiner von den Nachzüglern nahm sich einen Anstoß daran, dass den beiden, als sie wieder aufrecht standen, je ein weißer, langer Bart in ihren Gesichtern wuchs und sie mit je einer geblümten Kittelschürze und je einer roten Zipfelmütze über ihrer Nacktheit bekleidet waren.
Die beiden schauten sich verdutzt an. Denn plötzlich fühlten sie sich nicht mehr wie normale Oggse, sondern wie verirrte Wichtel der Fischer-Meisterschaften von Upsalla, die von ihrem rechten Weg abgekommen waren. Nur dass sie noch nie zuvor von diesem Ereignis etwas vernommen hatten.
Normalerweise wäre es ihnen jetzt nach Blut, Schweiß und Tränen ihrer alsbald ausstehenden Kriegsbeute gewesen. Doch was war in dieser Nacht schon normal, fragten sie sich.
Der Rest der wehrhaften Meute, nicht nur die des Trupps 96.-573, rasselte mit ihren Zähnen, Äxten und Säbeln und wollte sich mit ihren geflügelten Schaukelpferden in die Lüfte des Orkans schwingen, um das Ödland noch in dieser Nacht hinter sich zu lassen und bei Morgengrauen in dem Grenzland des Königs der Zuckeronen einzufallen. Denn deren Morgenstunde hatte bekanntlich noch immer Gold im Mund.
Doch die beiden verwirrten Oggse stellten sich ihnen in den Weg.
In Windeseile verwoben sich ihre langen, weißen Bärte zu einem großen Wurf-Netz, wie die Seelen-Fischer von Upsalla es zu haben pflegten und beschworen es zu einem lebendigen Wesen.
„Zwei gegen den Rest der Welt?“, höhnte der Oberste der Oggs und schickte sich an, den beiden Schlusslichtern der Nachzügler den Garaus zu machen. Doch das lebendig gewordene Fischernetz der beiden verkappten Upsallanern kam ihm zuvor.
Es spie ihm und seiner Meute eine große Menge Schleimer vor die Füße und begrub die kriegerischen Oggs unter seiner Last an täglichem Glibber und gutgemeintem Wohlwollen Anderer, um sich dann immer enger um deren Hälse zuzuziehen. Bis das Netz aus ihnen eine zerzauste und entwurzelte Mannen-Tanne geformt hatte, die quer über dem Lagerplatz lag und mit lauter glimmenden Gasflämmchen bestückt war.
Die beiden ehemaligen Schlusslichter des Trupps 96.-573 staunten nicht schlecht darüber, erinnerte sie das Gebilde vor ihren Füßen doch an einen gekappten, riesigen und leidlich geschmückten Lebensbaum, den man aufgestellt hatte, um die bösen Geister der Nacht aus den eigenen Gemäuern zu vertreiben. Nur dass er just in diesem Augenblick in sich selbst zu Asche verglomm …
„Machen wir dem König der Zuckeronen eine Wintersonnenwendefreude und suchen ihn und sein Volk nicht weiter heim?“, fragte der eine den anderen. Sie beide steckten ihre Hände in die geblümten Kittelschürzentaschen und wippten mit ihren roten Zipfelmützen.
„Ja!“, sagte der andere.
„Stattdessen nehmen wir die Ascheglut und streuen sie ins Meer?“, fragte der eine den anderen erneut.
„Ja! Und die Pfundslinge werden es uns danken. Sie waren doch bisher immer so begierig auf die Glut unserer Zerstörungswut, wenn wir diese wie Nebelschwaden in die Wasserwelt haben hinabsinken lassen. Und dieses Mal wird es echt ein besonderes Nachtmahl sein“, stimmte der andere zu.
„So sei es!“, sagte der eine zum anderen.
Und es erwuchs sich ein prachtvoller Unterwassergarten aus ihrem Tun. Mit wunderbaren Bäumen aus Tang, an deren länglichen Blättern lauter Feuerigel hingen und sogar Seesterne, die den Fischen und sonstigem Getier im Wasser der Fressgäste heim leuchteten …
© CRK, G/Le, 11/2021
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