Jörg Meyrer
7. Oktober 2021
IMMER NOCH?
ca. 10 Tage nach der Flut hatte eine Mitarbeiterin die Frage einer Bekannten auf dem Handy: "Habt ihr die Flutkatastrophe halbwegs gut überstanden?"
Wir wollten damals zurückschreiben:
"Ja, wir liegen im Garten und geniessen unsere Cocktails..."
Aber diesen Sarkasmus hätte die Schreiberin wohl nicht verstanden.
Jetzt sind schon 12 Wochen, fast 3 Monate seit der Flut vergangen.
Wie beantworten wir denn heute die Frage?
Ein Post von heute:
"Wir stecken in schweren Zeiten und die sind Schwerstarbeit für unsere Seelen.
Wie ferngesteuert... in der ersten Phase, wo so viel geschafft werden musste, haben wir geschuftet, gerackert...und uns so auch dieser schrecklichen Wirklichkeit angenähert...
Jetzt ist eine andere Phase...da geht es um Aushalten, damit leben lernen dass alles anders ist....dass wir alles verloren haben...und das ist fast schwerer als am Anfang...es ist mindestens genauso mühsam."
Immer noch nicht geschafft?
Übern Berg?
Es ist unglaubliches geschafft worden in diesen Wochen:
_ die Straßen sind alle befahrbar, die Auto-Brücken in der Stadt können benutzt werden und das ist eine ungeheure Erleichterung;
_ alle Schulen sind in Betrieb, wenn auch z.T. im Notbetrieb, der manches an Anstrengung erfordert;
_ die Kindergärten haben ihre Arbeit ebenfalls aufgenommen, alle sind untergebracht, - an den endgültigen Lösungen wird bereits gearbeitet;
_ die zerstörten Wasser- und Stromleitungen sind längst wieder in Betrieb, - und heute wurde sogar ein erstes Kopfloch an der Gasleitung am Ahrweiler Markt geöffnet, - ich glaube am Gas wird Tag und Nacht gearbeitet;
_ es gibt kulturelle Veranstaltungen, erste Geschäfte sind wieder geöffnet, es gibt Märkte...;
_ es sind viele Unterstützungs-Gelder geflossen und Anträge bereits bearbeitet;
_ und immer noch kommen tausende Engel Woche für Woche ins Ahrtal, und bringen mit ihrem Anpacken Licht ins Dunkel.
Und doch sind "immer noch" ganz viele Baustellen, - die auch weh tun:
• wenn ich an all den zerstörten Häusern vorbeifahre,
• so viele sind es, und überall haben Menschen gewohnt, die "immer noch" warten, nachdem sie alles verloren haben;
• wenn ich von persönlicher Not höre, - und die Geduld "immer noch" auf die Zerreißprobe gestellt wird;
• wenn das Dunkel immer wieder und "immer noch" auftaucht, wie die Nacht, die immer früher anbricht, - und eben nicht nur außen, sondern in der Seele... und ich "immer noch" nicht verstehen kann, was eigentlich in der Flutnacht passiert ist;
• wenn mir die Bilder "immer noch" nicht in den Kopf wollen, - von der Ahr, von den leeren Erdgeschossen und den leeren Ladenlokalen, von der Bahnstrecke, den Schotterbergen auf den Wiesen...;
• wenn die Traurigkeit der Seele "immer noch", immer wieder die Tränen in die Augen treibt, - bei allem Glück über das Erreichte an Normalität;
• wenn wir in den zerstörten Kirchen stehen, - und ich mich "immer noch" nicht an dieses Bild gewöhnen kann...
Ja, es wird noch lange dauern. Bei aller Normalität, die wir jeden Tag ein Stück mehr der Katastrophe abringen. Ab und an sitzen wir "unter Palmen und trinken Cocktails", aber nur ab und an.
Ansonsten ist es "immer noch" mühsam, anstrengend.
Das dürfen wir uns auch zugestehen, wenn wir müde sind, traurig, wenn die Seele schwer ist, wenn das Licht nicht sichtbar ist.
"Immer noch", - und doch: "immer weiter"