Perfekt - persönlichhe Gedanken
Irgendetwas löst in mir ein Unbehagen aus, wenn ich den Begriff «perfekt» höre. Der Trigger liegt in den Erwartungen, welche in diesem Wort mitschwingen. Erwartungen an andere. Erwartungen an mich. Ich habe drei Berufe erlernt, welche in ihrer Haltung bezüglich Perfektion kaum weiter auseinander liegen könnten.Als Landwirt weiss ich, dass es kein «perfektes Wetter» gibt. Vielleicht ist das Wetter ideal zum Heuen aber zu trocken für das Getreide. Die Henne legt jeden Tag ein grosses Ei, während ihr genetisch identischer Bruder trotz hohem Futterverzehr mit seinem mageren Hühnerbrüstchen Mitleid erweckt. Wenn wir einen einigermassen passablen Mittelweg finden, sind wir bereits zufrieden.
Als Teamcoach in der IT habe ich es mit anderen Massstäben zu tun. Hier gelten die Grundsätze der Agilität und Lean Production. Das einzige unsichere ist der Markt. Das Wetter und die Genetik spielen keine Rolle. In jeder «Retrospektive» versuche ich, die Menschen in ihrem Streben nach Perfektion zu unterstützen. Mit ausgefeilten Metriken messen wir die erreichten Fortschritte. Der Slogan lautet: Wir sind noch nicht perfekt, aber wir arbeiten daran. Wirklich? Ist es unser intrinsischer Wunsch oder die Erwartung unserer Vorgesetzten? Wieviel Mut kostet es mich, als Teamcoach hinzustehen und zu sagen: «Mein Team ist hoch performant, gerade weil es nicht perfekt ist»? Kurzer Exkurs: Nur ein funktionales Team kann hoch performant sein. Der Anspruch an Perfektion führt aber nicht zu einer höheren Funktionalität. Eher zu einer höheren Suizidrate, wie es uns von Japan, dem Land mit der höchsten Perfektion drastisch vor Augen geführt wird.
Als Sexualberater habe ich es oft mit Menschen zu tun, welche viel zu hohe Erwartungen an sich und ihren Partner haben. Ich bitte meine Klienten dann, ihren perfekten Partner zu beschreiben. Sie beginnen mit den kleinen Aufmerksamkeiten, den unerwarteten Geschenken und den Rosen. Weiter geht es dann mit dem Humor, der Nähe, Liebe und der Leidenschaft. Nach höchstens zwei Minuten bringt der Mann vor Staunen den Mund nicht mehr zu und die Frau gesteht sich ein, dass ihr perfekter Mann nur im Film existiert. «Bitte beschreiben Sie mir nun die Frau, welche dieser perfekte Mann verdient hat». Meistens ist dies der Moment, wo die Frau verstohlen an ihre Oberschenkel greift und in lautem Schluchzen ausbricht…
Zurück zum Thema. Ich liebe das Unperfekte. Lieber «good for now and safe enogh to try» als in Schönheit sterben. Doch was heisst eigentlich unperfekt? Unperfekt ist ein Un-Wort. Es misst sich am Wort «perfekt». Damit über das Unperfekte gesprochen werden kann, muss geklärt sein, was «perfekt» ist, und was nicht.