Über das Küssen
Ich entfalte einen Zollstock und stelle ihn vor mich auf den Boden, damit ich mir vorstellen kann, wo genau die 1,57 m sind, die sie angegeben hat. Ich rufe eine Landkarte aus dem Netz auf und suche Bingen. Irgendwo dort wohnt sie, 40 Kilometer von hier. Der Rhein ist nicht weit, und die Weinberge beginnen, wie sie schreibt, gleich hinter ihrem Haus. Es muss eine schöne Gegend sein. Ich suche den Weg von Darmstadt zu ihr und überlege, wie lange es braucht, um zu ihr zu kommen. Wir sind zwar gar nicht verabredet, und sie ahnt nicht, was ich hier tue, aber darum geht es auch nicht. Es geht darum, etwas in der Hand zu haben, ein Stück Realität um sie herumzubauen, damit ich aus dieser eigenartig unwirklichen Lage herauskomme, in der ihre Briefe und Bilder im Raum schweben. Ich brauche etwas, in das ich sie einordnen kann, sie müssen irgendwohin gehören und einen eigenen Ort haben. Sie sind zwar festgehalten auf einer Speicherplatte, aber dorthin wurden sie von einer Frau geschickt, die ich nicht kenne. Sie hat mir zwar ein paar sehr private Dinge andeutungsweise geschrieben, die sie vielleicht nicht jedem anvertraut, doch dieses anfängliche Vertrauen schwebt ebenso seltsam im Nichts.Sie hat mir Bilder geschickt, die weitaus privater sind und viel tiefer in meine Gefühlswelt eindringen als ihre Texte. Ich sehe eine Frau mit einem atemberaubend schönen Körper und hinreißend weiblicher Anmut. Sie hat eine wundervolle Haut und einen Busen, der einer griechischen Statue nachempfunden sein muss. Es sind Bilder dabei, die nur ein Liebhaber sehen kann, dem sie erlaubt, ihrem Körper so nah zu kommen, daß er ihre intimsten Stellen mit den Lippen berühren kann. Es sind Bilder von umwerfender Schönheit, die mir da so einfach ins Mailfach geflattert sind. Ich kann auf ihnen ihre Venus sehen und bin mit den Augen nur eine Handbreit von ihr entfernt. Ich sehe jedes Detail einer vollkommenen Vagina, und ich kann nicht anders, als mir vorzustellen, sie wirklich so zu sehen, ihren Duft zu atmen und ihre Lippen mit meinen sanft zu berühren. Alles an ihr ist von einer Zartheit und Sinnlichkeit, die ich noch nicht gesehen habe. In mir strömt unwillkürlich große Zärtlichkeit und Sehnsucht, ein Verlangen nach Berührung, daß es beginnt, weh zu tun, weil es nicht wirklich ist.
Ich denke an die vielen Klagen, die ich in den Profilen etlicher Frauen lese, die sich verärgert und angewidert gegen die ständige Flut von Schwanzbildern empören. Das hier ist anders. Nicht nur, weil sie mich gefragt hat, ob ich solche Bilder möchte, sondern weil sie schmerzhaft schön sind. Sie sind schön, weil sie für mich das Abbild der Idee von Schönheit verkörpern; etwa so, wie in der Antike nicht ein bestimmter Mensch in Marmor gehauen wurde, sondern die Idee vom schönen Menschen an sich, das Ideal. Und es ist schmerzhaft, weil es wirklich ist und keine Idee. Wäre es eine, könnte ich sie hinnehmen und sie einfach nur schön finden, ohne sie begehren zu müssen. Aber es gibt sie, diese Frau, und sie schickt mir Bilder von sich. Sie ist mir so nah gekommen, daß ich nicht mehr umhin kann, ihre Schönheit zu begehren. Ich kann meine Sehnsucht nicht einfach zur Seite stellen, um wieder klar sehen zu können. Ich muss durch sie hindurch, auch wenn ich dabei nicht mehr klar sehen kann. Ich weiß sehr wohl, daß dies pathetisch klingt und vielleicht auch zu dick aufgetragen, aber das schert mich nicht. Ich empfinde jetzt so, es ist für mich wirklich. Genauso kümmert es mich nicht, was sein wird, wenn wir uns treffen; dann werde ich sie nicht anders kennenlernen, als sie ist, sondern näher. Ich werde einer Frau gegenüberstehen, deren Bilder ebenso zu ihr gehören wie ihre Stimme.
Ich will sie kennenlernen, will mit ihr sprechen und ihr gegenübersitzen. Ich will ihre Stimme hören und in ihre Augen sehen. Und ich will ihre Hände sehen, denn ich erwarte, daß sie sehr schöne Hände hat. Auf zweien der Bilder hält sie einmal ein rotes Herz aus Kirschsafteis und auf dem anderen ein kleines, eiförmiges Ding mit Leopardenmuster mit den Fingerspitzen auf ihren Venushügel. Diese Bilder zeigen ihre zarten, weiblichen Hände und ihre sorgfältig gepflegten Fingernägel. Ich stelle mir vor, wie sie mit diesen Fingerspitzen mein Gesicht berührt und über meine Lippen fährt.
Unser erstes Zusammentreffen ist ein Spaziergang am Rhein. Die Sonne steht schon tief, und es beginnt zu dämmern. Wir gehen nebeneinander her und sprechen über die Weinberge. Sie erzählt mir, daß sie gern hier lebt und oft in den Weinbergen unterwegs ist. Hin und wieder berühren sich unsere Arme. Es sind zufällige Berührungen, aber jede einzelne geht mir mit einem Schauer durch den Körper. Sie ist hinreißend. Ich bin ganz erfüllt von ihrer Gegenwart, ihrer Stimme und ihrem Lachen. Ich erzähle ihr von mir, daß ich mich noch als ein Zugezogener fühle, ein Mann aus der norddeutschenTiefebene, der erst vor einem knappen Jahr nach Hessen kam und sich noch nicht heimisch fühlt. Es wird kühler, und sie lädt mich zu sich auf eine Tasse Tee ein. Auf dem Weg sprechen wir über das Küssen. Ich frage sie, wie es bei ihr damit stehe, denn sie hatte mir ganz am Anfang unseres Mailwechsels mal geschrieben, daß sie das Küssen nicht sehr mag und es fast vermeidet, weil sie dieses Zungengeschlabber nicht leiden kann. Außerdem hatte sie mir erst neulich von ihrem kussfreudigen Lover geschrieben, den sie über den Club kennengelernt hatte und mit dem sie sich sehr wohl fühle. Sie sagt, daß sie tatsächlich etwas daran ändern wolle. Sie müsse halt irgendwie diese Abneigung überwinden, wisse aber noch nicht so genau, wie. Ob sie denn einschätzen könne, ob ihr Freund ein guter Küsser sei, frage ich sie. Sie weiß, daß ich sehr gern küsse, das hatte ich ihr bereits mehr als ein Mal geschrieben, und so antwortet sie mit einer Gegenfrage.
„Hältst du dich für einen guten Küsser?“
„Ja, daß muss ich wohl.“ Meine Antwort ist so kurz wie überzeugt.
„Wieso musst du?“
„Weil ich bisher keine anderen Reaktionen bekommen habe.“
„Aha, … das klingt aber sehr überzeugt.“
„Ich bin ja auch sehr davon überzeugt. Überzeugt worden. Ich hab vielleicht nicht so viele Frauen geküsst, wie die meisten in meinem Alter, aber das Urteil ist ziemlich eindeutig.“
„Na gut, das nehme ich mal so hin. Und was ist für dich so toll am Küssen?“
„Das Küssen ist überhaupt das Tollste. Neben anderem, natürlich. Ich finds einfach großartig, sich zu küssen. Das ist wie ein Zwiegespräch. Man unterhält sich mit Berührungen.“
„Okay, das ist ja überhaupt so beim Sex. Aber Küssen; das ist mir irgendwie unangenehm.“
„Was findest du denn so schrecklich daran? Es muss doch nicht ein Zungengeschlabber sein.“
„Ach, ich weiß es auch nicht. Ist halt nicht mein Ding. Vielleicht hab ich ja nur schlechte Küsser gehabt.“
„Das glaub ich nicht. So viele schlechte kann es doch gar nicht geben.“
„Na hör mal! Meinst du, ich hätte schon halb Rheinland-Pfalz abgeknutscht!“
„Nein, das nicht. Aber es kann ja auch sein, daß du dir selbst die guten Küsser von deinen Lippen gehalten hast. So hast du dann kaum eine Chance gehabt.“
„Na gut, kann sein. Ich habe ja zum Glück den Küsser vorm Herrn bei mir, der mir noch was beibringen kann.“
„Na ja, ich hätte ja nichts dagegen. Aber im Gehen ist es etwas schwierig. Bleib doch mal stehen.“
Wir bleiben stehen und sehen uns an. Ich streiche ihr eine Strähne aus dem Gesicht, und sie legt ihren Zeigefinger auf meine Lippen.
„Warte noch, wir sind gleich bei mir.“
Wir gehen wortlos die letzten Meter bis zu ihrer Haustür. Auch im Treppenhaus sind nur die Geräusche unserer Schuhsohlen auf den Stufen zu hören. Ich habe das Gefühl, daß etwas nicht in Ordnung ist und kann nicht erkennen, was es ist. Ich spüre nur diese seltsame Betäubung, die mich immer erfasst, wenn ein ungutes Schweigen entsteht, das immer erstickender wird, je länger es dauert. Mit jeder Stufe wird mir die Luft dünner, und ich zwinge mich, etwas zu sagen, bevor wir ohne ein Wort in ihre Wohnung gehen und uns schweigend gegenüberstehen.
„Seit wann wohnst du hier?“
„Ich bin gerade erst eingezogen. Das hab ich dir doch vorgestern am Telefon erzählt, oder nicht?“
„Ach ja … fällt mir auch gerade ein.“
‚Verdammt, was machst du hier eigentlich? Natürlich weißt du das.’ schimpfe ich. Ich bin so verkrampft, daß ich die naheliegenden Dinge nicht mehr erkenne. Mit dieser blöden Frage geht es mir natürlich nicht besser. Aber sie erlöst mich auf eine Weise, die mich mit einem Schlag aus meiner seltsamen Gefangenheit befreit.
Vor meiner Wohnungstür drehte ich mich zu ihm um und sah ihm in sein schönes Gesicht. Für sein Lächeln schien er Kraft zu brauchen; ich sah, daß er nicht wusste, wohin mit sich. Irgendetwas machte ihm sehr zu schaffen. War es für ihn das erste Mal, daß er sich mit einer Frau aus dem Internet trifft? Das konnte ich mir nicht vorstellen. Vielleicht gefiel ich ihm zu sehr, auf eine Weise, mit der er nicht gerechnet hatte. Jedenfalls wollte ich ihm aus dieser schwierigen Lage, in der er sich gerade zu befinden schien, heraushelfen. Aber ich wollte ihn auch nicht wie einen kleinen Jungen behandeln und sprach ihn direkt darauf an.
„Du bist ein bisschen verspannt, kann das sein?“
„Ja.“, sagte er, „Bin ich.“
„Dafür gibt’s keinen Grund. Jedenfalls nicht, was mich betrifft.“
Ich öffnete meine Tür und ließ ihn herein. Meine Wohnung war noch nicht eingerichtet; nur das Bad und die Küche waren komplett ausgestattet. Deshalb gingen wir nach einem kurzen Rundgang durch die Räume in die Küche, und ich setzte das Teewasser auf.
„Möchtest du Schwarzen, Pfefferminz, Thymian …“
„Thymian wär klasse.“
„Okay, außergewöhnlicher Wunsch. Hast du’s im Hals?“
„Nein, das nicht. Aber ich hab vor irre langer Zeit mal gern Thymiantee getrunken. Würd gern wissen, wie mir das heute schmeckt. Ich hatte mal so ‘ne Kräuterphase.“
„Lass mich raten: 80er Jahre, friedensbewegt, politisch oberkorrekt und kein Sex.“
Er musste spontan lachen. Sein Lachen hatte ich am Telefon schon oft gehört; dieses warme, spitzbübische Lachen, das mir sofort wieder einen kleinen Schauer in den Bauch warf.
„Und viel Kräutertee.“, setzte er breit grinsend hinzu.
„Ja genau. Kräutertee ohne Ende.“
„Kein Sex stimmt zwar nicht,“ sagte er, immer noch schmunzelnd, „aber besonders viel war’s tatsächlich nicht. Bist du auch über alle Demos getingelt? Gegen Pershing II, Startbahn West, Brokdorf und all das Zeugs?“
„Nein, da war ich nie dabei. Aber ich war Spitze in political correctness und Feminismus. Ich hab sogar Artikel geschrieben für ‘ne kleine Zeitung. Und ich hab mal eine halbe Stunde mit Alice Schwarzer geredet. Da staunst du.“
„Is nich wahr! Hast du die interviewt?“
„Nee nee, eine Redakteurin von der Zeitung kannte die persönlich und hat mich ihr vorgestellt. Das war auf einer Veranstaltung in Frankfurt. Aus der Zeit ist auch dieses eine Bild mit der Kurzhaarfrisur. Das, was ich dir vor ein paar Tagen geschickt hab. Ich seh da schrecklich aus, oder?“
Im Kocher wurde das Wasser nicht heiß. Ich sah, daß der Stecker nicht eingestöpselt war, steckte ihn in die Dose und machte den Kocher an. Die Schachtel mit dem Thymiantee musste ich erst aus der Schublade hervorkramen. Der Tee war längst abgelaufen.
„Tut mir leid, der ist nicht mehr ganz frisch.“
„Kein Problem, ich nehme auch gerne einen Kaffee, wenn du hast.“
„Klar, hab ich auch. Wär mir jetzt auch lieber. Deine Anspannung legt sich langsam wieder, hab ich recht?“ Ich bemühte mich, es beiläufig klingen zu lassen.
„Ja, hat sie. Kann man deutlich merken, was?“
„Warst du meinetwegen so aufgeregt?“
„Ja sicher, was denkst denn du? Woher hätte die denn sonst kommen sollen?“
„Ich weiß nicht. Vielleicht, weil es für dich das erste Mal ist?“
„Das erste Mal, was? Daß ich eine Frau treffe, die ich im Internet kennengelernt habe?“
„Könnte doch sein?“
„Wie kommst du denn auf so ‘ne Idee?“ Er klang fast gereizt.
„Es war halt nur ‘ne Idee, entschuldige. Wär doch überhaupt nicht schlimm. Ich fänds sogar sehr süß.“
„Is ja auch egal … ich … ich war halt nervös. Ziemlich sogar, wenn ich ehrlich sein soll.“
‚Ja,’, dachte ich, ‚sei bitte ehrlich zu mir.’ Ich fragte mich, ob ich das Kussthema wieder aufnehmen sollte, ließ es aber bleiben. Irgendwie passte es jetzt nicht. Im Moment schien gar nichts richtig zu passen. Ich fühlte mich unwohl. Bei dem Ton, den er gerade anschlug, sollte ich wohl eher ein aufmunterndes Wort sagen. Vielleicht ein Kompliment zu seinen schönen Texten, von denen er mir schon viele geschickt hatte. Aber hatte ich ihm nicht schon so oft gesagt, wie viel sie mir bedeuten? Doch er nahm selbst den weiteren Verlauf in die Hand.
Sie scheint über irgendwas nachzudenken, aber diesmal will ich keine Pause entstehen lassen. Und ich will ehrlich zu ihr sein. Als sie den Trichter mit dem Kaffee auf die Kanne stellt, kommt sie an den Tisch zurück und setzt sich. Ich gebe mir einen Ruck.
„Du hast Recht. Du bist die Erste.“ Dieser Satz läuft mir den Rücken runter wie ein Schwall von kaltem Wasser, und irgendwie schaffe ich es, sie dabei anzusehen.
„Ist das wahr?“ Sie lächelt mich erfreut an und hat dabei ein Leuchten in ihren Augen. „Schön … das finde ich richtig schön.“
„Du bist die erste, die mich so nervös macht. Eigentlich bist du die dritte. Aber bei den ersten beiden gab es nur ein Treffen, und es blieb auch dabei. Bei dir möchte ich das nicht.“
Ihr Lächeln verwandelt sich in einen ernsten, aber weichen Ausdruck, und das Leuchten in ihren wunderschönen Augen scheint noch etwas heller zu werden.
„Dankeschön.“, sagt sie halblaut, „Das freut mich sehr.“ Sie steht auf, beugt sich zu mir herunter und gibt mir einen zarten Kuss auf die Wange.
„Ich möchte das auch nicht.“, sagt sie ganz leis. Ihre Stimme rollt wie ein sanftes Beben durch meinen Körper. Für ein paar Sekunden bin ich wie betäubt und sehe ihr zu, wie sie den Kaffee aufbrüht. Was sie mir ins Ohr geflüstert hatte, dringt mir wärmend bis ins Mark. Diesen Moment werde ich nicht vergessen, das spüre ich schon jetzt. Es ist wie ein Geschenk, eine unerwartete, aber tief erhoffte Nähe. Sie hatte gerade ein „Ja“ ausgesprochen. Und sie hat mich damit gemeint.
Jetzt war ich diejenige, die etwas nervös wurde. Ich hatte viele unterschiedliche Vorstellungen von unserem ersten Zusammentreffen gehabt. Solche, die ich mir wünschte und solche, die ich mir sicherheitshalber zurechtgelegt hatte, um nicht zu sehr enttäuscht zu sein. Ich hatte ein paar schlechte erste Dates mit Männern hinter mir, die so ganz anders waren, als ich sie mir im Lauf der Mailkontakte vorstellen durfte. Und jetzt sah ich, daß dieser Mann an meinem Küchentisch so ist, wie er schreibt; einfühlsam. Der Eindruck, wir kennten uns schon lange, blieb einfach bestehen. Das ist, was ihn am besten beschreibt, und es ist das, was er selbst am besten beschreibt; Einfühlung. Eine offene, aber mit klaren Grenzen versehene Bereitschaft, in einen Kontakt zu gehen. In seiner Gegenwart fühlte ich mich völlig sicher, und ebendas machte mich etwas nervös. Ich spürte nicht nur, wie sehr er mich als Frau begehrte. Ich konnte körperlich fühlen, wie sehr er mich als Mensch respektierte. Er war einfach da, ohne etwas zu fordern. Er forderte nur eines ein; daß ich mit mir da bin, ohne ihm etwas vorzumachen.
Er wolle wissen, wer ich bin. Er wolle mit mir zusammensein und sehen, was aus dieser einmaligen Konstellation erwächst. So hatte er es mir schon Tage zuvor geschrieben, und ich begann zu verstehen, was er damit meinte. Er wolle keinen Sex erwarten, auch wenn es das sei, was seine Phantasie ihm unentwegt vorspiele. Das sei eben nur Phantasie, die zwar unsagbar wertvoll, aber kein Ziel sei, das es unbedingt zu verwirklichen gelte. Er wolle das nehmen, was wir beide aus der Situation machten, wenn sie denn da wäre. Jetzt war sie da, und ich fühlte mich wohl auf eine Weise, die für mich ganz ungewohnt und widersprüchlich war.
Ich sage nichts, und sie sagt auch nichts, während sie das Wasser in den Trichter gießt. Es ist still in ihrer Küche, und ich habe kein Scheißgefühl wegen der Pause, die jetzt schon eine ganze Weile dauert. Ich fühle, daß ich hier richtig bin. Ich kann sie ansehen und die Art wahrnehmen, in der sie dasteht; mit der Hüfte an die Arbeitsplatte gelehnt, das linke Bein entspannt vor das rechte gekreuzt. Sie sieht wundervoll aus. Ich kann alles, was ich über sie aus ihren Texten herausgelesen habe, an ihrer Haltung wiedererkennen. Sie ist so, wie ich sie mir vorgestellt habe; gefühlvoll, anmutig und sehr weiblich. Sie bewegt sich auf eine geheimnisvoll geschmeidige Art, sie scheint irgendwie zu schweben, wenn sie geht. Und auch, wenn sie steht, so wie jetzt, hat ihr Körper einen Schwung; etwas scheint aus ihr zu fließen und den Raum zu füllen mit ihrer sanften Präsenz. Es ist einfach schön, in ihrer Nähe zu sein.
Doch in dieses Gefühl mischt sich noch etwas Anderes, das sich in mir schon regte, als ich den Zollstock nahm, damit ich mir vorstellen kann, wie groß ihre 1,57 sind. Es ist ein Krampf, der kontinuierlich an meinen Gedärmen zieht. Schon als ich zu diesem Treffen losfuhr, zog er an ihnen, und jetzt hat er meinen Magen so richtig in die Zwickmühle genommen; jetzt, als mir langsam bewusst wird, daß mein Gefühl für diese Frau ganz anders ist, als ich es haben will. Ich denke an meine Ehefrau und kann es kaum ertragen, daß sie mir plötzlich lästig erscheint. Das hat sie nicht verdient. Sie hat nicht verdient, daß ich ihr einen Scheiß erzähle. Ausgerechnet bei diesem Gedanken brummt mein Telefon.
Ich kam mit dem Kaffee an den Tisch zurück. Beim Eingießen hörte ich den Vibrationsalarm des Handys in seiner Hosentasche. Er zuckte zusammen, als hätte ihn eine Bremse in die Lende gebissen.
„Na?“ schmunzelte ich ihn an, „Neue Anfrage aus der Damenwelt?“
Er zog das Telefon aus der Tasche, starrte kurz auf das Display und ließ es wieder verschwinden.
„Was? … Nein … neinein, das war nur ein Freund von mir.“ Seine Stirn verrunzelte sich.
„Möchtest du Zucker?“
„Nein, nur etwas Milch.“
„Ich hab ihn etwas stärker gemacht. Ich weiß ja schon, daß du keinen schwachen Kaffee magst.“
„Nein, bloß nicht. Ich trinke immer stark.“ Er nahm die Tasse und führte sie an seinen schönen, aber ernsten Mund. Es wird nicht sein Freund gewesen sein, aber darüber wollte ich jetzt nicht nachdenken.
„Ich find es irgendwie toll, was ich schon alles über dich weiß. So viel habe ich noch nie über jemanden erfahren, also nur über mails jetzt. Oder besser gesagt, Briefe. Deine mails lesen sich ja eher wie Briefe.“
„Sind wohl eher langatmige mails.“
„Nein, gar nicht! Es sind Briefe, so wie früher. Ich stelle mir manchmal vor, ich bekomme deine Briefe auch wirklich mit der Post. Der Postbote kommt früh am Morgen und bringt einen Brief von dir, ich sitze am Frühstückstisch und lese deine schönen Zeilen. Das würde viel besser zu dir passen.“
„Ach so, das meinst du. Ich bin etwas altmodisch, da hast du wohl recht.“
„Nein, du bist überhaupt nicht altmodisch! Und wenn schon; ich finde es sehr schön. Eigentlich würde ich sie gerne handschriftlich haben. Das wäre dann richtig altmodisch.“
„Ach nee, mit der Hand geschrieben? Da müsste ich ja noch mehr aufpassen, daß …meine Schrift dann auch gut ist.“
„Du hast bestimmt eine sehr schöne Handschrift. Das kann gar nicht anders sein.“
„Ja, hab ich auch. In der ersten und zweiten Klasse hatten wir Schönschrift als Fach, zwei Stunden in der Woche.“
Sein Gesicht hellte sich wieder etwas auf, und meine erneute Anspannung, die sich nach der sms breitgemacht hatte, spürte ich erst jetzt, da sie wieder nachließ.
„Na dann, lass mich doch mal sehen, wie du mit der Hand schreibst.“
Ich stand auf und holte einen Schreibblock und das Fülleretui aus meiner Aktentasche.
„Hier, dieser Füller ist fast sechzig Jahre alt. Hab ich von meinem Vater geerbt. Die Feder ist aber viel jünger.“
Er nahm mir den Füller aus der Hand und begutachtete ihn.
„Sehr schönes Ding.“, sagte er anerkennend. „Schreibst du viel damit?“
„Nein, damit leiste ich nur meine Unterschriften. Aber das sind sehr viele jeden Tag.“
Vorsichtig schraubte er den Füller auf und sah sich die Feder an. Ich öffnete den Block und schob ihn neben seine Kaffeetasse. Wie selbstverständlich begann er zu schreiben. Ich verfolgte die Bewegungen seiner Hand und sah, wie er zügig aus dem Stegreif einen Text niederschrieb. Die ersten Zeilen verrieten schon, daß es sich um ein Gedicht handeln musste, und ich konnte erkennen, daß sich die Buchstaben zu einer elegant geschwungenen Schrift aneinanderreihten. Konzentriert blickte er auf das Blatt, den Kopf ganz leicht nach links geneigt und mit einem ebenso leichten Lächeln auf seinen wunderschönen Lippen. Ich denke oft an dieses Bild, nicht nur dann, wenn ich das Gedicht lese, das er mir daließ. Jedes Mal verursacht es ein eigenartig zwiespältiges Gefühl; es ist wie das angenehme Rieseln von warmem Sand, der aus scharfkantigen Körnern besteht und in mir kleine Wunden reißt.
Das Zittern des Telefons erschreckt mich fast zu Tode. Aber es ist auch ein Zeichen für mich. Ich halte mich an dem Handy fest wie an einen Baum, der mir Halt gibt, wenn die Erde bebt und der Stamm vibriert. Es ist wie ein Lebenszeichen, ein Zeichen aus meinem Leben, das gerade erzittert. Es sind gute Vibrationen, die mich so sehr erschrecken lassen. Sie erinnern mich an etwas, das zu vergessen ich gerade versuchen wollte; Respekt. Ich will jedem, der es verdient, Respekt entgegenbringen, zuallererst meiner Frau. Ich wollte sie gerade als ein lästiges Hindernis, als Kette an meinen Füßen abschütteln. Dabei habe ich ihr Wort, daß sie nichts unternimmt, das uns gefährden könnte. Es kann immer etwas passieren, und eine Nacht mit einem anderen kann es auch sein. Aber man weiß, was da passiert, und man spürt auch, wenn etwas Ernsthaftes vor sich geht, und es ist immer eine Entscheidung, das zuzulassen oder nicht. Ich habe ihr Wort, und sie hat meins. Ich habe ihr meines nicht gegeben, um ihres jetzt wegzuwerfen. Jetzt, wo ich nicht zweifeln kann, daß diese Frau hier am Küchentisch kein Flirt für mich ist. Auch sie hat meinen größten Respekt verdient. Nicht, weil sie so begehrenswert und hinreißend schön ist, sondern weil sie mir ebenso eine hohe Achtung entgegenbringt und mehr in mir sieht als nur den Mann.
All das geht mir durch den Kopf, als ich das Gedicht in den Block schreibe. Das Gedicht ist zwei Tage alt. Ich habe es wohl in einer Art Vorahnung geschrieben, nachdem wir das letzte Mal vor diesem Treffen telefoniert hatten. Und jetzt, als ich es zum ersten Mal niederschreibe, bekommt es die ganz eigene Bedeutung. Ich reiße das Blatt heraus und falte es zwei Mal.
„Wie … darf ich es jetzt gar nicht lesen?“
„Doch, klar darfst du. Es ist ja für dich. Aber du musst es dir erst verdienen.“
„Aha! Lass mich raten. Ein Zungenkuss.“
„Du lernst aber schnell. Respekt! Gar nicht schlecht für eine Frau.“
Sie schlägt zum Spaß nach meiner Hand, die ich auf das gefaltete Blatt gelegt habe. Mit der anderen halte ich ihren Arm fest, damit sie nicht nochmal zu haut. Wir sehen uns an, und ihre Augen sprühen vor Vergnügen wie die eines übermütigen Mädchens. Sie beugt sich mir entgegen, und unsere Lippen berühren sich. Es ist ein ganz zaghafter, fast teeniemäßiger Kuss, und er dauert nur drei Sekunden.
„Na? Für den Anfang doch ganz gut oder?“
„Ja, damit kannst du arbeiten. Jetzt brauchst du nur noch einen guten Trainer.“
„Ich dachte, du würdest das übernehmen. Oder bist du schon ausgebucht?“
„Auf jeden Fall für heute. Ich muss jetzt los.“
Sie sah auf die Uhr und verzog das Gesicht.
„Verdammt, du hast Recht. Wir hätten nicht so lange spazieren gehen sollen.“
Ich war richtig zufrieden mit unserem Treffen. Daß es das einzige sein würde, zumindest für eine längere Zeit, wusste ich noch nicht. Erst, als ich das Gedicht gelesen hatte, ging mir ein kleines, trauriges Licht auf. Und dann, als er mir einen Tag später einen handgeschriebenen Brief in den Postkasten legte, wusste ich Bescheid. Doch zunächst, an diesem Abend, war ich sehr zufrieden. Ich glaube, ich war glücklich. Ich brachte ihn zur Tür. Er gab mir keinen zweiten Kuss. Er drückte mir das gefaltete Papier in die Hand und und wünschte mir eine gute Nacht und einen schönen Traum.
Ich ging in meine neue Küche, setzte mich an den Tisch und las.
Zwischen Jetzt und Hier
Ihre Lippen sprechen
Was ihr Mund verschweigt
Und mein Herz wird brechen
Wenn mein Weg abzweigt
Meine Augen sehen
Daß sie mich erkennt
Und mein Herz wird flehen
Daß es nicht verbrennt
Könnte ich denn bleiben
Bliebe ich bei mir
Und mein Herz aufreiben
Zwischen Jetzt und Hier
Unsre Lippen münden
In nur einen Kuss
Wenn wir doch verstünden
Was sein kann, nicht muss
plantnurse