Aufgeschoben ist nicht aufgehoben
Die beiden Damen kennen sich nicht.Sie haben sich nur während der Show immer wieder angelächelt.
Die eine hatte sich ein Getränk bestellt, die andere kurz darauf das gleiche.
Die eine hatte einen Salade nicoise geordert, die andere genauso.
Die eine hatte sich ein Mousse au chocolat kommen lassen, die andere hatte keine fünf Minuten später auch eines.
Die eine denkt sich, wenn ich ins kalte Wasser springe, springt die andere dann auch?
Nach großem Applaus wird das Ende der Veranstaltung eingeläutet.
Die eine geht nach draußen, um frische Luft zu schnappen.
Die andere, um zu rauchen.
Zwei hübsche Damen. Die eine ganz in rot, die andere ganz in weiß.
Sie stehen wie zufällig zusammen, betrachten sich gegenseitig. Sprechen über die Show.
Lachen. Leicht fließt die Unterhaltung.
Dann gesellt sich ein Mann dazu. Eine gepflegte Erscheinung, nicht besonders groß, eine voll tönende Stimme.
Er lacht freundlich, tauscht mit den Damen Bemerkungen zur Veranstaltung aus.
Das ist jedoch nur ein Vorwand, seine Eintrittskarte, um mit den Damen ins Gespräch zu kommen.
Mit den Damen? Schnell ist klar, dass ihn nur die eine interessiert.
Er nutzt die Gelegenheit, als sich ein Auto durch die Menschen drängt.
Legt seinen Arm um die Taille der einen und zieht sie beiseite in scheinbare Sicherheit.
Er will mit ihr alleine sein. Will alles über sie wissen.
Die eine, sonst nicht schüchtern, aber jetzt ist ihr Lachen zu laut.
Ihr Blick sucht die andere. Sieht gerade noch, wie die weiße Bluse in der Menge verschwindet.
Der Mann zieht die eine an sich, will sie küssen.
Kokett dreht sie ihren Kopf beiseite.
Er fragt weiter, will wissen, ob die eine jemandem gehört.
Er ist frei und will, dass die eine seine wird.
Er gefällt ihr. Die eine will es nicht zugeben, nicht einmal vor sich selbst.
Zu oft ist sie verletzt worden. Wo ist die andere?
Sie plaudern weiter. Oder ist das überhaupt noch Plaudern?
Das sind klare Worte: Ich will dich! Jetzt und hier!
Wieder versucht er, die eine zu küssen.
Er trifft nur ihre Wange. Plötzlich erwidert sie den Kuss für einen Moment.
Erschrocken über sich selbst, löst die eine sich aus seiner Umarmung.
Er strahlt sie an. Sie wendet den Blick verlegen ab.
Stammelt unzusammenhängendes Zeug.
Er flüstert ihr eine Fantasie ins Ohr.
Die eine kichert. Zittert. Es ist kühl. Sie legt ihre Arme um sich.
Seine Augen sagen: "Lass mich das übernehmen!"
Die eine schaut sich um. Die Gruppe hat sich aufgelöst.
Die andere ist nicht zu sehen.
Keiner kann ihr die Entscheidung abnehmen. Was soll sie tun?
Die eine ist alleine mit ihrem Bauchgefühl. Und das sagt Nein.
Der Abend ist zu Ende.
Der Mann muss gehen. Hat einen weiten Weg vor sich.
Er will bei ihr bleiben. Aber was soll er machen?
Die eine friert, will sich aber nicht wärmen lassen.
Warum? Fragen sich beide.
"Ich möchte mit dir ein Eis essen gehen!"
Wie bitte? Jetzt? Mitten in der Nacht? Er grinst.
"Lass' uns in Kontakt bleiben. Ich muss jetzt gehen."
Ja, in Kontakt bleiben. Das ist unverbindlich. Ungefährlich.
Die eine ist froh und traurig zugleich.
Sie sehnt den Kuss genauso herbei, wie sie ihn fürchtet.
Entscheidet er doch, ob es mehr davon gibt.
Dieser Kuss ist jetzt aufgeschoben.
Aber aufgeschoben ist nicht aufgehoben. Oder?
Die eine schaut dem Mann hinterher, wie er sich entfernt.
Fühlt, wie eine Decke um ihre Schultern gelegt wird.
Sie hört die Stimme der anderen: "Komm"!"
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