Erfurt
Faye sah aus dem Küchenfenster und ließ den Gast ihre Rückansicht studieren. Auf dem rechten Bein stehend lehnte sie sich mit der linken Schulter an die Leibung und legte ihren freien Fuß an die rechte Ferse. In dieser Stellung konnte ihr Etuikleid zur Geltung kommen, und die Rundung ihres Pos war annähernd perfekt. Eine Weile herrschte Stille. Die regennasse Straße unter ihr schimmerte in den Farben der Leuchtreklamen, und das einzige Zeichen von Leben war der Fernseher, der seine wechselnden Lichtblitze durch die Gardinen eines der vielen Fenster im gegenüberliegenden Wohnblock herüberschickte.„Wohnst du hier schon länger?“
Sie sah zur Ampel hinüber, die in ihrem ewigen Rhythmus uhrengleich den Stillstand der Straße in einem sinnlosen Takt vermaß. Sie wäre jetzt gern mit ihrem Auto losgefahren. Irgendwohin, ans andere Ende der Stadt, wo ihr niemand diese Fragen stellt.
„Nein. Ich bin erst vor einem halben Jahr hierhergezogen. Aus Erfurt.“
Erfurt liegt sicher auch im Regen. In der Andreasvorstadt werden sich die Studenten in die Kneipen zurückziehen. Sie wäre jetzt gern dabei. Fünf Autostunden sind es dorthin. Fünf Stunden etwa wird sie mit ihrem Gast verbringen. Sie hat diesem Date nunmal zugestimmt, in einem Anflug von Verlangen nach Berührung.
„Aus Erfurt kommst du? Hast du mir noch gar nicht erzählt. Da war ich auch schon mal. Sehr schöne Stadt.“
Ja, Erfurt ist schön. Aber diese Stadt ist nicht schön. Ein halbes Jahr ist mehr als genug, das herauszufinden. Vielleicht ist es auch viel zu wenig. Sie hat nicht viel gesehen von ihr. Dafür hat sie viel gearbeitet und viel geschlafen. Den Schlaf hat sie gebraucht. Sowenig sie den Schlaf gebraucht hat, als sie in Erfurt lebte, sowenig konnte sie das Wachsein hier ertragen. Sie wusste immer noch nicht, wie sie es anstellen soll, hier anzukommen.
„Ja, Erfurt ist wunderschön.“
Ihr Gast erhob sich und ging zu ihr ans Fenster. Sie sah ihn an, nahm seine Hand und legte seine Finger an ihre Lippen.
„Ich freu mich, daß du gekommen bist.“
Er strich ihr zärtlich über ihre Wange und zeichnete mit den Fingern die Form ihres Amorbogens nach.
© plantnurse